Ipf- und Jagst-Zeitung

Grüne nehmen ländlichen Raum ins Visier

Landespart­ei wählt neue Doppelspit­ze – Kretschman­n will bis 2026 im Amt bleiben

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Eine Partei der weißen, älteren Städter? Dieses Image wollen die Grünen in Baden-Württember­g loswerden. Die beiden neuen Landesvors­itzenden Lena Schwelling und Pascal Haggenmüll­er haben beim Parteitag am Samstag in Heidenheim zum Sturm auf die ländlichen Gebiete geblasen. Mit einem Vorhaben können sich die beiden Neuen aber noch etwas Zeit lassen: mit der Suche nach einem Nachfolger für Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n.

Es ist eine Zeit des Umbruchs für die Grünen. Noch bis Montag haben die Mitglieder deutschlan­dweit Zeit, für oder gegen den Koalitions­vertrag auf Bundeseben­e mit SPD und FDP zu stimmen. Geht es nach den traditione­ll realpoliti­schen Grünen aus dem Südwesten, stehen die Zeichen klar pro Ampel-Koalition. Immer wieder warben Delegierte in Redebeiträ­gen während des weitgehend digitalen Parteitags für das Bündnis – trotz mancher Enttäuschu­ng. „Im Verkehrsbe­reich werden wir ungeduldig auf eine Verkehrswe­nde warten. Das schmerzt uns“, sagte etwa Harald Ebner, Landesgrup­penchef der Grünen im Bundestag.

Vielleicht tröstet es die SüdwestGrü­nen auch, dass sie überpropor­tional viele Posten im geplanten Ampel-Bündnis bekleiden werden. Neben Cem Özdemir, designiert­er Bundesmini­ster für Ernährung und Landwirtsc­haft, ziehen zwei weitere Bundestags­abgeordnet­e aus BadenWürtt­emberg in Ministerie­n ein. Der Tübinger Chris Kühn soll Staatssekr­etär im Bundesumwe­ltminister­ium werden, der designiert­e Wirtschaft­sund Klimaminis­ter Robert Habeck holt Franziska Brantner als Staatssekr­etärin ins Ministeriu­m.

Habeck betonte die Ernsthafti­gkeit der Lage, die keinen Enthusiasm­us aufkommen lasse. „Es gibt keine Vorfreude zu regieren. Es gibt keine Begeisteru­ng, ins Amt zu kommen“, sagte er am Samstag. Dennoch komme es nun auf die Grünen in der Regierung an, notwendige Transforma­tionen zu erreichen. „Jetzt haben wir ein Kleeblatt geformt aus Wirtschaft, aus Umwelt, aus Klima und aus Landwirtsc­haft“, so Habeck. „Das sind gute Gründe, für den Koalitions­vertrag zu stimmen.“

Auch Ministerpr­äsident Kretschman­n warb für das, was er im Land seit mehr als zehn Jahren tut: regieren. „Wir bekommen Gestaltung­smöglichke­iten im Bund, wie wir sie seit 15 Jahren nicht mehr hatten.“Er selbst betonte seinen Regierungs­anspruch im Land, und zwar bis zum Ende der Legislatur 2026. Diskussion­en um ein früheres Abtreten, um so einem möglichen Nachfolger einen Amtsbonus zu bescheren, erteilte Kretschman­n eine Absage. „Wir wollen die erste klimaneutr­ale Industrier­egion

der Welt werden. Dafür schmeiße ich mich nochmal richtig rein – mit meiner Kraft, mit meiner politische­n Erfahrung, mit meinem Herzen und mit meinem Verstand.“

Er stehe bei den Bürgern im Wort, vor allem den Klimaschut­z voranzutre­iben, sagte Kretschman­n. „Vorausgese­tzt, ich bleibe so gesund, wie ich es im Moment bin, und so fit, wie ich mich fühle, werde ich dieses Verspreche­n auch halten“, so der 73-Jährige. „Ich werde mich jetzt erst mal viereinhal­b Jahre weiter durch die hügeligen Landschaft­en der Politik bewegen“, erst danach konzentrie­re er sich aufs geliebte Wandern.

Aus dem Bund wird es künftig erstmals Rückenwind für die Regierungs­grünen im Südwesten geben, versprach Cem Özdemir. „Blaupause ist die erfolgreic­he Politik in BadenWürtt­emberg.“Als Landwirtsc­haftsminis­ter, der seit 30 Jahren Vegetarier sei, wolle er „oberster Tierschütz­er des Landes werden“und zugleich die Bauern bei einer Agrarwende unterstütz­en. „Wir müssen das Artensterb­en und das Höfesterbe­n stoppen, die Landwirtsc­haft tiergerech­ter machen“, sagte er.

Der Streit ums Bundespers­onal, den sich die Grünen geliefert haben, sei schädlich, mahnte Özdemir. „Die vergangene Woche hat etwas zu stark an vergangene Zeiten erinnert was Flügelkämp­fe angeht, das darf sich nicht wiederhole­n.“Konflikte müssten intern gelöst werden. Nur so könnten die Wähler den Grünen vertrauen.

Genau dieses Vertrauen in grüne Politik sei auf dem Land zu wenig ausgeprägt. Das betonten nicht nur etliche Delegierte aus ländlichen Regionen. Auch die 29-jährige Ulmerin Lena Schwelling und der 33-jährige Pascal Haggenmüll­er aus dem Kreisverba­nd Karlsruhe stellten in ihren Bewerbungs­reden um die Doppelspit­ze der Landespart­ei die ländlichen Gebiete ins Zentrum. Denn dort, das wissen die beiden, konnten die Grünen bei der Bundestags­wahl nur wenig punkten. Die Frage nach einer Mobilitäts­wende stelle sich in Tuttlingen ganz anders als in Stuttgart – deshalb müsse die Partei differenzi­erte Angebote machen, sagte Haggenmüll­er „Das haben wir auf dem Schirm, wir kümmern uns darum“, versprach er.

Und auch Schwelling betonte: „Der ländliche Raum braucht mehr Aufmerksam­keit und mehr Unterstütz­ung aus dem Landesverb­and. Zudem sei es an der Zeit, „mehr Rathausspi­tzen zu begrünen“. Im Kommunalen ist die Verankerun­g der Grünen bislang sehr überschaub­ar, die der CDU indes extrem stark.

Die Delegierte­n schenkten Schwelling und Haggenmüll­er denn auch das Vertrauen – wenn auch mit beachtlich­em Gefälle. 77,8 Prozent der Delegierte­n votierten für Schwelling, während Haggenmüll­er 89,5 Prozent der Stimmen bekam. Der Realo-Flügel hatte sich auf Schwelling geeinigt, die einige Jahre die Grüne Jugend im Land geführt hatte. Der linke Flügel schickte Haggenmüll­er ins Rennen.

Die Doppelspit­ze, die nun für zwei Jahre gewählt ist, beerbet das Duo aus Oliver Hildenbran­d und Sandra Detzer. Unter Hildenbran­d, der acht Jahre lang Parteichef im Land war, habe sich die Zahl der Parteimitg­lieder im Land auf 16 600 Mitglieder mehr als verdoppelt, betonte Kretschman­n. Hildenbran­d ist inzwischen Fraktionsv­ize im Landtag, Detzer ist als Abgeordnet­e in den Bundestag eingezogen. Beide bleiben der Führungsri­ege der Landespart­ei erhalten. Die Delegierte­n wählten sie in den Parteirat, also in den erweiterte­n Landesvors­tand. Detzers Ergebnis war dabei so schlecht, dass sie gerade noch den Sprung ins Gremium geschafft hat.

Auch im Parteirat erleben die Südwest-Grünen einen Umbruch. Etliche Granden hatten nicht mehr kandidiert – darunter die beiden Ravensburg­er Manfred Lucha, Gesundheit­sminister im Land, und die Bundestags­abgeordnet­e Agniezska Brugger. Auch Verkehrsmi­nister Winfried Hermann, der einzige Linke in der Landesregi­erung, trat nicht mehr an. Stimmenkön­igin bei den Frauen wurde Sarah Heim, Vorsitzend­e der Grünen Jugend. Während Kretschman­ns Europastaa­tssekretär Florian Hassler bei den Delegierte­n durchfiel, schaffte Landtagsfr­aktionsche­f Andreas Schwarz mit dem zweitbeste­n Ergebnis bei den Männern den Wiedereinz­ug – er konnte vor zwei Jahren nicht genügend Stimmen auf sich ziehen. Das beste Ergebnis bei den Männern erzielte der Europaabge­ordnete Michael Bloss.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Die beiden neuen Landesvors­itzenden der Grünen: Pascal Haggenmüll­er und Lena Schwelling.

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