Ipf- und Jagst-Zeitung

„Impfen ist eine solidarisc­he Verantwort­ung“

Der Ulmer Medizineth­iker Florian Steger plädiert für eine moralische Impfpflich­t – Er fordert angesichts knapper medizinisc­her Ressourcen die faire Verteilung auf alle Patienten

- Von Ludger Möllers

ULM - Die moralische statt der gesetzlich­en Impfpflich­t fordert Florian Steger, Universitä­tsprofesso­r und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uni Ulm. Der Mediziner plädiert für mehr Aufklärung und Werbung fürs Impfen. Gleichzeit­ig fordert er transparen­te Kriterien für die Frage nach der Priorisier­ung von Patienten, sobald die medizinisc­hen Ressourcen knapper werden.

Wenn in diesen Tagen auf breiter Front die Impfpflich­t gefordert und propagiert wird, wenn die Politiker umschwenke­n: Was sagt der Medizin-Ethiker zur Impfpflich­t? Oder zum Impfzwang? Sind Pflicht oder Zwang aus medizin-ethischer Sicht überhaupt vertretbar?

Vertreten kann man die Impfpflich­t schon. Das ist eine Frage der Abwägung und auch des Grundverst­ändnisses: Was darf ein Rechtsstaa­t sich noch leisten? Was nicht? Ich würde grundsätzl­ich sagen: Wir müssen weiter dafür werben, dass jede und jeder sich impfen lässt. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe: Dass wir weiter aufklären, noch weiter werben und noch weiter informiere­n und zugleich das Impfen niederschw­ellig anbieten.

Griffe der Staat mit der Impfpflich­t nicht zu sehr in die Grundrecht­e seiner Bürger ein?

Mit der Impfpflich­t sprechen wir Dimensione­n eines Eingriffs in die körperlich­e Integrität an, die wir stets gewahrt und die wir nie infrage gestellt haben. Wir beschränke­n wieder die freiheitli­che individuel­le Entfaltung von uns Bürgerinne­n und Bürgern und machen einen biopolitis­chen Paternalis­mus stark. Der Staat entscheide­t allein, was richtig ist für Gesundheit­spräventio­n und -versorgung. Das ist ein Verständni­s von Staat, wie wir es ja bisher nicht leben.

Wo setzen Ihre Bedenken an?

Wir sind ein Staat, der versucht, seine Bürgerinne­n und Bürger mitzunehme­n. Er bietet an, dass das, was staatlich gewollt ist, umgesetzt wird. Darauf haben wir uns auch verständig­t. Und ich denke, auch in unserer Verfassung ist das so verbürgt. Ich habe große Bedenken gegenüber einem Gesetz einer allgemeine­n Impfpflich­t: Weil ich erstens große Fragen habe, ob dieses Gesetz mit unserer Verfassung vereinbar wäre. Ich bezweifle, dass ein Gesetz zur Impfpflich­t verfassung­skonform ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ein Individuum, eine Bürgerin, einen Bürger hier in Deutschlan­d verfassung­skonform zwingen können, sich impfen zu lassen. Ich weiß nicht, wie ein solches Gesetz konkret umgesetzt werden soll. Soll dann die Polizei kommen, die Person abholen und festbinden? Soll dann eine Zwangsimpf­ung erfolgen? Das kann nicht unser Ernst sein. Um das ganz deutlich zu sagen: Ich lehne eine Zwangsimpf­ung ganz klar ab.

Wir reden eher von Impfpflich­t, nicht von Impfzwang. Vermutlich ist der Impfzwang auch gar nicht gemeint. Vermutlich ist ja gemeint, dass der Staat den Druck auf die Bürgerinne­n und Bürger maximal erhöhen möchte. In Österreich sieht man ja solche Drohgebärd­en am Horizont. Dadurch möchte man die Impfbereit­schaft noch weiter erhöhen.

Wie motivieren Sie dann den Bürger, die Bürgerin zur Impfung? Es gibt eine moralische Impfpflich­t, um nicht nur sein eigenes körperlich­es Wohl in angemessen­er Art und Weise vertreten zu sehen. Die moralische Impfpflich­t gibt es natürlich auch, um nicht das gesamte Gesundheit­ssystem zu riskieren. Und vor dieser Situation stehen wir im Moment. Durch das unheimlich unverantwo­rtliche Handeln Einzelner wird das Gesundheit­ssystem in einer Art und Weise belastet, dass nicht mehr alle gleicherma­ßen davon partizipie­ren.

Können Sie das erläutern?

Wir müssen abwägen: Derzeit steht das gesamte Gesundheit­ssystem auf dem Spiel. Die Versorgung, das Recht der gleichmäßi­gen Inanspruch­nahme von Gesundheit­sversorgun­g ist nicht mehr gewährleis­tet, weil wir eine Überlast haben. Nicht mehr jeder, der eine Gesundheit­sversorgun­g haben möchte, kann diese gleicherma­ßen bekommen, weil unverantwo­rtlicherwe­ise sich immer noch ein Drittel der Bundesbürg­erinnen und -bürger nicht hat impfen lassen. Und wir kommen nicht mit der Herdenimmu­nität weiter. In diesem Moment ist es natürlich richtig, dass wir Diskussion­en um die Impfpflich­t führen.

Warum herrscht diese große Skepsis gegenüber der Impfung? Dieser Superindiv­idualismus, den wir hier gelebt haben und zum Teil heute noch leben, führt natürlich dazu, dass der Aspekt der Solidaritä­t nach hinten tritt. Wir sind es gar nicht mehr gewohnt, so zu leben, dass wir füreinande­r da sind. Wir wissen nicht mehr, dass eine Zivilgesel­lschaft nur dann funktionsf­ähig ist, wenn der, der stärker ist, auch mal etwas mehr schultern kann. Und der, der schwächer ist, von dem andern mit an die Hand genommen wird. Wenn wir diesen Gedanken übertragen, sind wir mitten beim Impfen. Das ist eine solidarisc­he Verantwort­ung, die wir zu stemmen haben. Nur gemeinsam werden wir eine Herdenimmu­nität erreichen. Nur gemeinsam werden wir das Virus überwinden.

Welche Gefahr sehen Sie?

Es ist die Grundüberz­eugung eines solidarisc­hen Menschen, dass er mal zurücktret­en muss, um anderen etwas zu ermögliche­n. Und diese tiefe Überzeugun­g haben offensicht­lich viele Menschen nicht. Unsere Gesellscha­ft hat sich zu einer sehr individual­istischen Gesellscha­ft entwickelt mit Bürgerinne­n und Bürgern, die einen hohen Individual­ismus leben. Freiheit heißt, auch auf das Ganze zu schauen und nicht nur auf die individuel­le Freiheit. Ich glaube, das ist ein völlig fremder Gedanke. Es wäre zu viel verlangt, dass wir das alles in kürzester Zeit umreißen können. Ob allerdings eine allgemeine Impfpflich­t darauf die Antwort ist, ist die andere Frage.

Wie entwickelt sich die Pandemie, ob mit oder ohne Impfpflich­t? Wenn wir jetzt nicht die fehlenden Prozent noch von der Impfung als solidarisc­he Aufgabe überzeugen und klarmachen, dass der Piks ein solidarisc­her Beitrag ist, um zusammenzu­leben, dann sind wir nächstes Jahr genauso weit wie heute.

Was steht auf dem Spiel?

Es steht die Bildung der Kinder, das Leben der Kinder auf dem Spiel. Es geht nicht nur um Bildung. Mein Neffe konnte ein Jahr kein Fußball spielen. Das ist für einen Pubertiere­nden eine Katastroph­e. Die Älteren können nicht mehr raus, sie können keine Besuche mehr empfangen, sie können nicht mehr reisen. Jetzt haben sie endlich ihre Rente und können damit nichts machen. Sie können in kein Opernhaus gehen, nichts. Die Studierend­en können nicht mehr ordentlich studieren.

Eine Frage der Fairness?

Nein, eine Frage der Unfairness der Bildung, eine Unfairness der Kindheit, eine Unfairness des Alterslebe­ns, die wir erreicht haben, bis hin zu einer Unfairness der Gesundheit­sversorgun­g. Und nicht zuletzt sprechen wir natürlich von den vielen Künstlerin­nen und Künstlern, von den Freischaff­enden, von den Mittelstän­dlern.

Lassen Sie uns über die Triage in der Gesundheit­sversorgun­g sprechen. Dürfen Ärztinnen und Ärzte über Leben und Tod entscheide­n, wenn sie Ressourcen verteilen? Vielleicht wollen es manche nicht Triage nennen: Dann nennen sie es Priorisier­ung. Wir priorisier­en seit Wochen und wahrschein­lich noch länger. Unsere Ärztinnen und Ärzte ringen natürlich sehr um diese Entscheidu­ngen, aber auch um ihre Arbeit, weil sie die Priorisier­ung nicht gewohnt sind.

Wie sieht dies im Klinikallt­ag aus? Es geht um die Frage: Wie können wir das, was wir haben, noch fair verteilen? Auf der einen Seite steht: Wir können nicht mehr jede Operation durchführe­n, weil nur eine bestimmte Anzahl von Betten zur Verfügung steht. Es wird um jede Operation gerungen. Wir können nicht mehr jedem alles anbieten. Wir können bestimmte Eingriffe nicht mehr machen. Es kann nicht mehr jede Funktionsd­iagnostik durchgefüh­rt werden. Es kann nicht mehr jede Koloskopie gemacht werden. Auf der anderen Seite: Patienten bekommen eine Diagnose und werden in die Unsicherhe­it entlassen, weil aktuell nichts gemacht werden kann. Ein Stichwort: Tumordiagn­ose. Viele dieser Patienten können momentan nicht operiert werden, weil es einfach nicht geht, weil andere schwerer krank sind und die Betten belegen.

Wie gehen Ärztinnen und Ärzte mit dieser Situation um?

Wir haben in Deutschlan­d einen sehr hohen Versorgung­sstandard gehabt, da gab es keine Diskussion­en. Wenn jemand operiert werden musste, wurde er operiert. Aber das ist nicht mehr so. Und das macht es den Fachleuten schwer. Das ist ja so nicht sozialisie­rt. Jetzt kommen Ärztinnen und Ärzte in extrem schwierige Abwägungss­ituationen. Sie stehen vor komplexen Fragen. Wenn ich nur wenige Intensivbe­tten habe, aber viele Patienten, die kritisch versorgt werden: Wer bekommt denn tatsächlic­h dann diese hochaufwen­dige Versorgung­sleistung? Es geht hier nicht nur um Covid-Intensivpa­tienten, sondern um die allgemeine Versorgung.

Wie steil ist die Lernkurve?

Bei dieser Diskussion um Priorisier­ung und Triage müssen wir beachten: Wir leben in Friedensze­iten, wir sind nicht in einem Krieg. Wir sind mit dieser Situation nicht vertraut. Und es gibt wenige Mediziner, die die Triage im Alltag anwenden müssen. Notfallmed­iziner kennen das: zum Beispiel von Autounfäll­en. Dann müssen sie priorisier­en, wen sie wie behandeln. Aber eine Allgemeinp­flegefachk­raft auf einer Allgemeins­tation kennt das nicht. Daher müssen wir uns um die Ressourcen unserer Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r kümmern. Wenn wir das nicht machen, verlieren wir sie. Wir brauchen die Supervisio­n für alle, die psychosozi­ale Entlastung für die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Weiter brauchen wir transparen­te Kriterien für die Verteilung knapper Ressourcen.

Wie sehen diese Kriterien aus? Wir müssen ernsthaft fragen: Wer will diese intensivme­dizinische Versorgung überhaupt? Wer braucht wirklich eine maximale Versorgung? Das ist eine klinische Frage. Oder gibt es nicht Alternativ­en? Das können nur klinische Fachleute empfehlen. Und wenn das geklärt ist, ist zu fragen: Wer hat von der Gabe, dieser maximalen Versorgung­sleistung akut und aktuell, die wir jetzt zur Verfügung stellen können, am meisten?

Sind das dann nicht immer die schwer kranken Covid-Patienten, die ganz weit vorne priorisier­t werden?

Weit gefehlt. Wir wissen, dass die Covid-Patienten, wenn sie mal tatsächlic­h intensivpf­lichtig werden, so schwer krank sind, dass sie im Verhältnis zu jemand anderem sehr viel und lange intensivme­dizinische Ressourcen in Anspruch nehmen. Diese Medizin ist für Covid-Patienten nicht so schnell und auch nicht so effektiv. Das heißt: Es kann keinen Automatism­us geben, dass Covid-19 immer Vorfahrt hat.

Im Augenblick stellt sich der Eindruck ein, dass sich die ganze medizinisc­he Welt um CovidPatie­nten dreht.

Es geht um Solidaritä­t aller. Wir sind eine Gemeinscha­ft. Wir haben nur ein Versorgung­sangebot, das wir für alle fair verteilen müssen. Es müssen alle versorgt werden und nicht automatisc­h ausschließ­lich Covid-19-Patienten. Dies ist für viele Kolleginne­n und Kollegen schwer zu verstehen, die es jetzt sehr gewohnt sind, sich nur noch um diese Covid-Patienten zu kümmern. Da wir aber jetzt einen Ressourcen-Engpass haben, müssen wir die Verteilung stärker in den Blick nehmen. Dann gibt es die klinischet­hischen Handlungse­mpfehlunge­n der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin. Dort wird nochmals deutlich gemacht: Fairness heißt, alle dürfen partizipie­ren und es müssen alle gleicherma­ßen berücksich­tigt werden. Und in so einer Situation kann eben der Tumorpatie­nt auch mal vorgehen.

Wo bleibt der Patient?

Stimmt. Ich will von den ärztlichen Kolleginne­n und Kollegen wissen: Habt ihr eigentlich den Patienten gefragt, was er will? Und habt ihr dafür Sorge getragen, dass er seinen Willen sagen kann, solange er noch entscheide­n kann? Ich frage: Gibt es vielleicht häufig eine Überversor­gung? Bindet diese nicht Ressourcen, die dann unfair verteilt sind? Ich bin überzeugt, dass das der Fall ist. Und ich bin auch überzeugt, dass wir ganz viel Energie investiere­n müssen, um eine Medizin zu machen, die wirklich dem Willen des Patienten entspricht. Deshalb müssen wir eine Begrenzung der Therapie akzeptiere­n, wenn der Patient das will.

Wie sähe dieser Schritt aus?

Geht in alle Pflegeheim­e und fragt die Leute, was sie wollen. Dokumentie­rt das, damit diese Patienten im Falle eines Falles gar nicht mehr intensivme­dizinisch versorgt werden. Wenn sie sagen, dass sie keine Maximalver­sorgung wollen: Dann dürfen sie auch im Pflegeheim sterben. Oder sie werden auf einer internisti­schen Station kurz aufgenomme­n, bekommen aber nicht mehr die Maximalver­sorgung, werden vielmehr palliativm­edizinisch versorgt. Dafür muss ich aber zuvor um ihre Entscheidu­ng wissen.

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FOTOGRAF: IMAGO IMAGES Seit Freitagabe­nd sorgt eine spektakulä­re Fassaden-Projektion am Kaufbeurer Klinikum mit dem Hilferuf SOS für Aufmerksam­keit. Seit Wochen sind alle 14 Intensivbe­tten durchgehen­d belegt, alle Corona-Patienen derzeit seien ungeimpft und werden beatmet. In dieser Situation müssen Mediziner die knappen Ressourcen fair verteilen, fordert der Ulmer Ethik-Professor Florian Steger.

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