„Impfen ist eine solidarische Verantwortung“
Der Ulmer Medizinethiker Florian Steger plädiert für eine moralische Impfpflicht – Er fordert angesichts knapper medizinischer Ressourcen die faire Verteilung auf alle Patienten
ULM - Die moralische statt der gesetzlichen Impfpflicht fordert Florian Steger, Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uni Ulm. Der Mediziner plädiert für mehr Aufklärung und Werbung fürs Impfen. Gleichzeitig fordert er transparente Kriterien für die Frage nach der Priorisierung von Patienten, sobald die medizinischen Ressourcen knapper werden.
Wenn in diesen Tagen auf breiter Front die Impfpflicht gefordert und propagiert wird, wenn die Politiker umschwenken: Was sagt der Medizin-Ethiker zur Impfpflicht? Oder zum Impfzwang? Sind Pflicht oder Zwang aus medizin-ethischer Sicht überhaupt vertretbar?
Vertreten kann man die Impfpflicht schon. Das ist eine Frage der Abwägung und auch des Grundverständnisses: Was darf ein Rechtsstaat sich noch leisten? Was nicht? Ich würde grundsätzlich sagen: Wir müssen weiter dafür werben, dass jede und jeder sich impfen lässt. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe: Dass wir weiter aufklären, noch weiter werben und noch weiter informieren und zugleich das Impfen niederschwellig anbieten.
Griffe der Staat mit der Impfpflicht nicht zu sehr in die Grundrechte seiner Bürger ein?
Mit der Impfpflicht sprechen wir Dimensionen eines Eingriffs in die körperliche Integrität an, die wir stets gewahrt und die wir nie infrage gestellt haben. Wir beschränken wieder die freiheitliche individuelle Entfaltung von uns Bürgerinnen und Bürgern und machen einen biopolitischen Paternalismus stark. Der Staat entscheidet allein, was richtig ist für Gesundheitsprävention und -versorgung. Das ist ein Verständnis von Staat, wie wir es ja bisher nicht leben.
Wo setzen Ihre Bedenken an?
Wir sind ein Staat, der versucht, seine Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen. Er bietet an, dass das, was staatlich gewollt ist, umgesetzt wird. Darauf haben wir uns auch verständigt. Und ich denke, auch in unserer Verfassung ist das so verbürgt. Ich habe große Bedenken gegenüber einem Gesetz einer allgemeinen Impfpflicht: Weil ich erstens große Fragen habe, ob dieses Gesetz mit unserer Verfassung vereinbar wäre. Ich bezweifle, dass ein Gesetz zur Impfpflicht verfassungskonform ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ein Individuum, eine Bürgerin, einen Bürger hier in Deutschland verfassungskonform zwingen können, sich impfen zu lassen. Ich weiß nicht, wie ein solches Gesetz konkret umgesetzt werden soll. Soll dann die Polizei kommen, die Person abholen und festbinden? Soll dann eine Zwangsimpfung erfolgen? Das kann nicht unser Ernst sein. Um das ganz deutlich zu sagen: Ich lehne eine Zwangsimpfung ganz klar ab.
Wir reden eher von Impfpflicht, nicht von Impfzwang. Vermutlich ist der Impfzwang auch gar nicht gemeint. Vermutlich ist ja gemeint, dass der Staat den Druck auf die Bürgerinnen und Bürger maximal erhöhen möchte. In Österreich sieht man ja solche Drohgebärden am Horizont. Dadurch möchte man die Impfbereitschaft noch weiter erhöhen.
Wie motivieren Sie dann den Bürger, die Bürgerin zur Impfung? Es gibt eine moralische Impfpflicht, um nicht nur sein eigenes körperliches Wohl in angemessener Art und Weise vertreten zu sehen. Die moralische Impfpflicht gibt es natürlich auch, um nicht das gesamte Gesundheitssystem zu riskieren. Und vor dieser Situation stehen wir im Moment. Durch das unheimlich unverantwortliche Handeln Einzelner wird das Gesundheitssystem in einer Art und Weise belastet, dass nicht mehr alle gleichermaßen davon partizipieren.
Können Sie das erläutern?
Wir müssen abwägen: Derzeit steht das gesamte Gesundheitssystem auf dem Spiel. Die Versorgung, das Recht der gleichmäßigen Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung ist nicht mehr gewährleistet, weil wir eine Überlast haben. Nicht mehr jeder, der eine Gesundheitsversorgung haben möchte, kann diese gleichermaßen bekommen, weil unverantwortlicherweise sich immer noch ein Drittel der Bundesbürgerinnen und -bürger nicht hat impfen lassen. Und wir kommen nicht mit der Herdenimmunität weiter. In diesem Moment ist es natürlich richtig, dass wir Diskussionen um die Impfpflicht führen.
Warum herrscht diese große Skepsis gegenüber der Impfung? Dieser Superindividualismus, den wir hier gelebt haben und zum Teil heute noch leben, führt natürlich dazu, dass der Aspekt der Solidarität nach hinten tritt. Wir sind es gar nicht mehr gewohnt, so zu leben, dass wir füreinander da sind. Wir wissen nicht mehr, dass eine Zivilgesellschaft nur dann funktionsfähig ist, wenn der, der stärker ist, auch mal etwas mehr schultern kann. Und der, der schwächer ist, von dem andern mit an die Hand genommen wird. Wenn wir diesen Gedanken übertragen, sind wir mitten beim Impfen. Das ist eine solidarische Verantwortung, die wir zu stemmen haben. Nur gemeinsam werden wir eine Herdenimmunität erreichen. Nur gemeinsam werden wir das Virus überwinden.
Welche Gefahr sehen Sie?
Es ist die Grundüberzeugung eines solidarischen Menschen, dass er mal zurücktreten muss, um anderen etwas zu ermöglichen. Und diese tiefe Überzeugung haben offensichtlich viele Menschen nicht. Unsere Gesellschaft hat sich zu einer sehr individualistischen Gesellschaft entwickelt mit Bürgerinnen und Bürgern, die einen hohen Individualismus leben. Freiheit heißt, auch auf das Ganze zu schauen und nicht nur auf die individuelle Freiheit. Ich glaube, das ist ein völlig fremder Gedanke. Es wäre zu viel verlangt, dass wir das alles in kürzester Zeit umreißen können. Ob allerdings eine allgemeine Impfpflicht darauf die Antwort ist, ist die andere Frage.
Wie entwickelt sich die Pandemie, ob mit oder ohne Impfpflicht? Wenn wir jetzt nicht die fehlenden Prozent noch von der Impfung als solidarische Aufgabe überzeugen und klarmachen, dass der Piks ein solidarischer Beitrag ist, um zusammenzuleben, dann sind wir nächstes Jahr genauso weit wie heute.
Was steht auf dem Spiel?
Es steht die Bildung der Kinder, das Leben der Kinder auf dem Spiel. Es geht nicht nur um Bildung. Mein Neffe konnte ein Jahr kein Fußball spielen. Das ist für einen Pubertierenden eine Katastrophe. Die Älteren können nicht mehr raus, sie können keine Besuche mehr empfangen, sie können nicht mehr reisen. Jetzt haben sie endlich ihre Rente und können damit nichts machen. Sie können in kein Opernhaus gehen, nichts. Die Studierenden können nicht mehr ordentlich studieren.
Eine Frage der Fairness?
Nein, eine Frage der Unfairness der Bildung, eine Unfairness der Kindheit, eine Unfairness des Alterslebens, die wir erreicht haben, bis hin zu einer Unfairness der Gesundheitsversorgung. Und nicht zuletzt sprechen wir natürlich von den vielen Künstlerinnen und Künstlern, von den Freischaffenden, von den Mittelständlern.
Lassen Sie uns über die Triage in der Gesundheitsversorgung sprechen. Dürfen Ärztinnen und Ärzte über Leben und Tod entscheiden, wenn sie Ressourcen verteilen? Vielleicht wollen es manche nicht Triage nennen: Dann nennen sie es Priorisierung. Wir priorisieren seit Wochen und wahrscheinlich noch länger. Unsere Ärztinnen und Ärzte ringen natürlich sehr um diese Entscheidungen, aber auch um ihre Arbeit, weil sie die Priorisierung nicht gewohnt sind.
Wie sieht dies im Klinikalltag aus? Es geht um die Frage: Wie können wir das, was wir haben, noch fair verteilen? Auf der einen Seite steht: Wir können nicht mehr jede Operation durchführen, weil nur eine bestimmte Anzahl von Betten zur Verfügung steht. Es wird um jede Operation gerungen. Wir können nicht mehr jedem alles anbieten. Wir können bestimmte Eingriffe nicht mehr machen. Es kann nicht mehr jede Funktionsdiagnostik durchgeführt werden. Es kann nicht mehr jede Koloskopie gemacht werden. Auf der anderen Seite: Patienten bekommen eine Diagnose und werden in die Unsicherheit entlassen, weil aktuell nichts gemacht werden kann. Ein Stichwort: Tumordiagnose. Viele dieser Patienten können momentan nicht operiert werden, weil es einfach nicht geht, weil andere schwerer krank sind und die Betten belegen.
Wie gehen Ärztinnen und Ärzte mit dieser Situation um?
Wir haben in Deutschland einen sehr hohen Versorgungsstandard gehabt, da gab es keine Diskussionen. Wenn jemand operiert werden musste, wurde er operiert. Aber das ist nicht mehr so. Und das macht es den Fachleuten schwer. Das ist ja so nicht sozialisiert. Jetzt kommen Ärztinnen und Ärzte in extrem schwierige Abwägungssituationen. Sie stehen vor komplexen Fragen. Wenn ich nur wenige Intensivbetten habe, aber viele Patienten, die kritisch versorgt werden: Wer bekommt denn tatsächlich dann diese hochaufwendige Versorgungsleistung? Es geht hier nicht nur um Covid-Intensivpatienten, sondern um die allgemeine Versorgung.
Wie steil ist die Lernkurve?
Bei dieser Diskussion um Priorisierung und Triage müssen wir beachten: Wir leben in Friedenszeiten, wir sind nicht in einem Krieg. Wir sind mit dieser Situation nicht vertraut. Und es gibt wenige Mediziner, die die Triage im Alltag anwenden müssen. Notfallmediziner kennen das: zum Beispiel von Autounfällen. Dann müssen sie priorisieren, wen sie wie behandeln. Aber eine Allgemeinpflegefachkraft auf einer Allgemeinstation kennt das nicht. Daher müssen wir uns um die Ressourcen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern. Wenn wir das nicht machen, verlieren wir sie. Wir brauchen die Supervision für alle, die psychosoziale Entlastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Weiter brauchen wir transparente Kriterien für die Verteilung knapper Ressourcen.
Wie sehen diese Kriterien aus? Wir müssen ernsthaft fragen: Wer will diese intensivmedizinische Versorgung überhaupt? Wer braucht wirklich eine maximale Versorgung? Das ist eine klinische Frage. Oder gibt es nicht Alternativen? Das können nur klinische Fachleute empfehlen. Und wenn das geklärt ist, ist zu fragen: Wer hat von der Gabe, dieser maximalen Versorgungsleistung akut und aktuell, die wir jetzt zur Verfügung stellen können, am meisten?
Sind das dann nicht immer die schwer kranken Covid-Patienten, die ganz weit vorne priorisiert werden?
Weit gefehlt. Wir wissen, dass die Covid-Patienten, wenn sie mal tatsächlich intensivpflichtig werden, so schwer krank sind, dass sie im Verhältnis zu jemand anderem sehr viel und lange intensivmedizinische Ressourcen in Anspruch nehmen. Diese Medizin ist für Covid-Patienten nicht so schnell und auch nicht so effektiv. Das heißt: Es kann keinen Automatismus geben, dass Covid-19 immer Vorfahrt hat.
Im Augenblick stellt sich der Eindruck ein, dass sich die ganze medizinische Welt um CovidPatienten dreht.
Es geht um Solidarität aller. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir haben nur ein Versorgungsangebot, das wir für alle fair verteilen müssen. Es müssen alle versorgt werden und nicht automatisch ausschließlich Covid-19-Patienten. Dies ist für viele Kolleginnen und Kollegen schwer zu verstehen, die es jetzt sehr gewohnt sind, sich nur noch um diese Covid-Patienten zu kümmern. Da wir aber jetzt einen Ressourcen-Engpass haben, müssen wir die Verteilung stärker in den Blick nehmen. Dann gibt es die klinischethischen Handlungsempfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Dort wird nochmals deutlich gemacht: Fairness heißt, alle dürfen partizipieren und es müssen alle gleichermaßen berücksichtigt werden. Und in so einer Situation kann eben der Tumorpatient auch mal vorgehen.
Wo bleibt der Patient?
Stimmt. Ich will von den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen wissen: Habt ihr eigentlich den Patienten gefragt, was er will? Und habt ihr dafür Sorge getragen, dass er seinen Willen sagen kann, solange er noch entscheiden kann? Ich frage: Gibt es vielleicht häufig eine Überversorgung? Bindet diese nicht Ressourcen, die dann unfair verteilt sind? Ich bin überzeugt, dass das der Fall ist. Und ich bin auch überzeugt, dass wir ganz viel Energie investieren müssen, um eine Medizin zu machen, die wirklich dem Willen des Patienten entspricht. Deshalb müssen wir eine Begrenzung der Therapie akzeptieren, wenn der Patient das will.
Wie sähe dieser Schritt aus?
Geht in alle Pflegeheime und fragt die Leute, was sie wollen. Dokumentiert das, damit diese Patienten im Falle eines Falles gar nicht mehr intensivmedizinisch versorgt werden. Wenn sie sagen, dass sie keine Maximalversorgung wollen: Dann dürfen sie auch im Pflegeheim sterben. Oder sie werden auf einer internistischen Station kurz aufgenommen, bekommen aber nicht mehr die Maximalversorgung, werden vielmehr palliativmedizinisch versorgt. Dafür muss ich aber zuvor um ihre Entscheidung wissen.