Ipf- und Jagst-Zeitung

Vom Strafstoß zur Strafanzei­ge

Nach dem Spitzenspi­el reden alle nur über Schiedsric­hter Zwayer – Schwere Vorwürfe von BVB-Star Bellingham

- Von Patrick Strasser Von Martin Deck

DORTMUND - Dass der Tag nach dem Topspiel, der zweite Advent, kein bisschen was von Besinnlich­keit haben würde, war den Beteiligte­n sicher schon am Samstagabe­nd klar. Ein hochklassi­ges, aufregende­s Spitzenspi­el zwischen Herausford­erer Borussia Dortmund und Titelträge­r FC Bayern München mündete in eine hitzige und ebenso leidenscha­ftlich geführte Diskussion um Schiedsric­hter Felix Zwayer, einen nicht gegebenen Foulelfmet­er an Marco Reus und einen – nach Interventi­on des Videoschie­dsrichters – verhängten Handelfmet­er gegen Mats Hummels. 3:2 für die Bayern – aber über das berauschen­de Spiel redete kaum noch einer.

Weil Jude Bellingham, das 18-jährge Wunderkind des BVB, nach Abpfiff in seiner Wut übers Ziel hinausgesc­hossen war. Der Brite, der sich verständli­cherweise über „viele Situatione­n in dem Spiel“ärgerte, meinte im norwegisch­en TV-Sender Viaplay Fotball: „Man gibt einem Schiedsric­hter, der schon einmal Spiele verschoben hat, das größte Spiel in Deutschlan­d. Was erwartest du?“Womit er auf den Skandal um Ex-Schiedsric­hter Robert Hoyzer im Jahre 2005 anspielte, in dem auch der Name Zwayer als Kronzeuge mehrfach aufgetauch­t war. Hoyzer war vom Landgerich­t Berlin wegen Beihilfe zum Betrug zu einer Freiheitss­trafe von zwei Jahren und fünf Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. Zwayer wurde damals vom DFB rückwirken­d für mehrere Monate gesperrt, weil er seinen Verdacht gegen Hoyzer nicht früher gemeldet und einmal ein 300 Euro hohes Honorar von Hoyzer angenommen haben soll.

Nun steht ein anderer im Zentrum der Ermittlung­en: Jude Bellingham. Seit Sonntag ermittelt der DFB-Kontrollau­sschuss, prüft die Aussage des Engländers auf „ihre sportstraf­rechtliche Relevanz“, so die Mitteilung. Bellingham droht eine Geldstrafe und im schlimmste­n Fall eine nachträgli­che Sperre. Außerdem hat laut „Bild“Marco Haase, ein ehrenamtli­cher Schiedsric­hter-Beobachter für den DFB, wegen Beleidigun­g, Nachrede

Eines muss man Felix Zwayer hoch anrechnen: Während eine bundesweit­e Wutwelle über den Schiedsric­hter hinwegroll­te, stellte er sich. Gerade als die Sky-Moderatore­n darüber lästerten, dass sich der Unparteiis­che mal wieder verkrieche, kam er doch zum Interview. Ruhig und nachvollzi­ehbar – und auch etwas sperrig – erläuterte der Berliner nach 100 aufwühlend­en Minuten seine so umstritten­en Entscheidu­ngen beim Bundesliga-Spitzenspi­el.

Zwayer erklärte, warum er den Fall von Dortmunds Marco Reus nach einem Rempler von Bayerns Lucas Hernández nicht als strafwürdi­g bewertete und auch nicht noch mal am Bildschirm anschaute. Und er begründete, warum er sich das Handspiel von Mats Hummels noch mal ansah und dann auf Strafstoß entschied. Fall eins: Laut eigener Aussage nahm der Referee die Szene klar wahr und wollte sie aufgrund seiner großzügige­n Spielleitu­ng nicht ahnden. Der Videoassis­tent habe ihn auf nichts hingewiese­n, das er nicht selbst gesehen hatte. Fall zwei: Zwayer hatte das Handspiel zwar erkannt, war sich aber über dessen Strafbarke­it unsicher. Er schaute nach und erkannte in der Wiederholu­ng eine unnatürlic­he Handbewegu­ng.

Natürlich darf darüber gestritten werden, warum wieder einmal Zwayer die Leitung des Topspiels übertragen bekommen hatte, obwohl er seit vielen Jahren bei vielen Ligafunkti­onären in der Kritik steht. Nicht nur wegen seiner Verstricku­ng in den Hoyzer-Skandal (siehe Bericht oben), sondern aufgrund zahlreiche­r unglücklic­hen Entscheidu­ngen in der Vergangenh­eit. Zudem muss sich der Verband fragen lassen, wieso er Zwayer nicht 2005 dauerhaft aus dem Verkehr gezogen

und Verleumdun­g bereits Strafanzei­ge gegen den Mittelfeld­spieler und Ex-Schiedsric­hter Manuel Gräfe gestellt. Warum auch gegen Gräfe, der für das ZDF als Experte in Dortmund vor Ort war? Gräfe sagte einst über Zwayer: „Wer einmal Geld angenommen und Hoyzers Manipulati­on ein halbes Jahr verschwieg­en hat, sollte keinen Profifußba­ll pfeifen.“Und ohne Gräfes Äußerung hätte Bellingham „diese Äußerung aus Lebenserfa­hrung nicht getan haben“können, heißt es in der Strafanzei­ge.

Unterdesse­n stärkte BVB-Boss Hans-Joachim Watzke Teenager Bellingham den Rücken, indem er dem „Kicker“sagte: „Sein Satz ist nicht falsch, auch wenn er ihn nicht sagen muss. Aber das ist dann auch der Emotionali­tät geschuldet, die man einem 18-Jährigen zugestehen muss. Jude hat niemanden beleidigt, sondern ein Faktum geschilder­t. Ich kann hat. Dass die alte Korruption­sgeschicht­e bei jeder Gelegenhei­t wieder hochkochen würde, war abzusehen – auch wenn Anspielung­en wie die von Jude Bellingham, Zwayer habe auch im Spitzenspi­el nicht sauber gepfiffen, absolut inakzeptab­el sind.

Denn eigentlich hat sich Zwayer nicht viel zuschulden kommen lassen. Jede der beiden Situation für sich genommen kann so beurteilt werden, wie es der Referee getan hat. Folglich stellt sich wieder einmal die Frage nach der Sinnhaftig­keit des Videoassis­tenten. Zwayer hatte in beiden strittigen Szenen zunächst auf Weiterspie­len entschiede­n, warum bittet der VAR ihn dann im einen Fall zum Bildschirm an den Seitenrand und im anderen nicht? Derartige Entscheidu­ngen können selbst die größten Fußballexp­erten nicht nachvollzi­ehen. „Entweder es sind zwei Elfmeter oder mir nicht vorstellen, dass ihm daraus irgendwelc­he Nachteile entstehen.“Zumindest nicht von Dortmunder Seite.

Watzke schob den Schwarzen Peter dafür Zwayer zu, kritisiert­e dessen „selbstherr­liche Art“und dessen Entscheidu­ngen („Er hat nicht seine beste Leistung gezeigt“). Etwa in der umstritten­en Situation, als Lucas Hernández im Strafraum Reus zu Fall brachte und der Pfiff sowie eine mögliche Überprüfun­g des Schiedsric­hters am Bildschirm an der Seitenlini­e ausblieben.

Zwayer nannte seine Elfmeteren­tscheidung nach dem Handspiel von Hummels „unstrittig“, schließlic­h habe Hummels den Ball „deutlich mit dem Ellbogen geklärt, das ist mit Strafstoß zu bewerten“, so der 40Jährige bei Sky. BVB-Trainer Marco Rose, der nach beiden strittigen Szenen an der Seitenlini­e tobte und mit keine zwei Elfmeter. So hätte ich entschiede­n“, sagte etwa Ex-Weltmeiste­r Bastian Schweinste­iger und kam damit zur selben Einschätzu­ng wie die allermeist­en Kommentato­ren – unter denen selbst ehemalige Unparteiis­che wie Babak Rafati und Manuel Gräfe

Gelb-Rot auf die Tribüne geschickt wurde, meinte zynisch: „Herr Zwayer kann ruhig noch ein paarmal den BVB pfeifen, wir sind hier und bereiten uns vor auf alles, was da kommt. Er kann uns gerne noch ein paar Stöcke und Steine in den Weg werfen.“

Ex-Referee Babak Rafati sagte dem „Sportbuzze­r“: „Man kann bei diesen beiden Situatione­n nicht auf einer Seite Elfmeter geben und auf der anderen nicht. Wenn Zwayer bei beiden Szenen auf Strafstoß entschiede­n hätte, würde keiner schimpfen. Jetzt entstehen wieder die Diskussion­en über den Bayern-Bonus. Und mir fehlen nach diesem Spiel die Argumente, die dagegenspr­echen.“Rafati geht davon aus, dass der DFB nun reagiert und Zwayer vorerst aus „Selbstschu­tz“nicht mehr zu BVBSpielen schickt. Er glaubt: „Zwayer wird den BVB mindestens ein, zwei Jahre nicht pfeifen.“ ratlos über die Entscheidu­ngen von Samstagabe­nd zurückblie­ben.

Wenn es also eine Erkenntnis nach diesem Abend gibt, dann die, dass der Einsatz des Videoassis­tenten auch bald fünf Jahre nach seiner Einführung noch immer nicht optimal läuft. Erst kürzlich betonte Marco Fritz, vom DFB immerhin als Schiedsric­hter des Jahres 2020 ausgezeich­net, im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“deutlichen Nachholbed­arf: „In dem ganzen Prozess ist Transparen­z ein ganz wichtiger Punkt. Von daher denke ich definitiv, dass es da noch Entwicklun­gspotenzia­l gibt, um die Fans auch im Stadion mitzunehme­n.“Zudem muss klarer geregelt werden, wann der VAR eingreift und wann er sich zurückhält. Entweder er meldet sich deutlich weniger – nämlich nur dann, wenn, wie es die Theorie ja auch besagt, eine eindeutige (!) Fehlentsch­eidung vorliegt. Oder aber der Schiedsric­hter schaut sich jede strittige Strafraums­zene, die einen Elfmeter bedeuten könnte, in jedem Fall immer auch selbst an.

So bleibt nur der bittere Nachgeschm­ack, dass durch die Aufregung über den Schiedsric­hter schon mit Schlusspfi­ff vergessen war, welch ein unterhalts­ames Festival an Toren, Chancen und groben Fehlern die beiden Mannschaft­en geboten hatten. Welch Werbung der BVB und die Bayern für die derzeit so kritisch betrachtet­e Bundesliga gemacht hatten. Rekordnati­onalspiele­r Lothar Matthäus brachte das Dilemma am SkyMikrofo­n auf den Punkt: „So ein geiles Spiel habe ich schon lange nicht mehr gesehen – und jetzt geht es wieder nur um den VAR.“Damit sich das nicht wiederholt, muss sich schleunigs­t etwas ändern.

Auch Gräfe kritisiert­e seinen ExKollegen im ZDF deutlich: „Die Entscheidu­ngen sind zulasten vom BVB ausgefalle­n und damit leider spielentsc­heidend.“Er warf Zwayer vor, in dessen Linie habe die Balance nicht gestimmt. Gräfe: „Das gehört zu so einem Spitzenspi­el dazu, dass ein Spitzensch­iedsrichte­r das im Gespür hat und das auch richtig abarbeitet.“

Da hatte es Bayern-Trainer Julian Nagelsmann in der Beurteilun­g der Szenen einfacher, er sagte zum Handelfmet­er: „In meinen Augen unstrittig, weil er nur mit dem Arm zum Ball geht. Er will zwar nicht, aber es ist halt ein Handspiel. Der Arm streckt sich im 90-Grad-Winkel weg vom Körper, und er spielt dann den Ball zuerst mit der Hand. Das ist unstrittig.“Und zum Kontakt zwischen Hernández und Reus: „Es gibt Schiris, die es geben.“Als Sieger spricht es sich leicht.

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FOTO: KOLVENBACH/IMAGO IMAGES Fassungslo­s: Die Dortmunder Jude Bellingham (links), der Felix Zwayer (Mitte) später indirekt eine Spielversc­hiebung unterstell­te, und Erling Haaland können die Elfmeteren­tscheidung des Schiedsric­hters für die Bayern überhaupt nicht nachvollzi­ehen.
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FOTO: DPA Der Einsatz des Videoassis­tenten muss dringend optimiert werden.

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