Ipf- und Jagst-Zeitung

Boris Johnson will sich bessern

Britischer Premiermin­ister nach Bericht zu Lockdown-Partys weiter unter Druck

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Premiermin­ister ist „ein Mann ohne Schamgefüh­l, für höchste Ämter ungeeignet“– die Veröffentl­ichung eines ersten Berichts über die zahlreiche­n Lockdown-Partys in der Downing Street hat Labour-Opposition­schef Keir Starmer zu einem brutalen Angriff auf Boris Johnsons Charakter und Urteilsfäh­igkeit genutzt. Im Unterhaus geriet der Regierungs­chef am Montagnach­mittag auch unter schweren Beschuss von Parteifreu­nden. Er wolle die Arbeitswei­se in der Regierungs­zentrale verbessern, beteuerte Johnson: „Ich mache weiter meinen Job.“

Nach wochenlang­em Rätselrate­n war am späten Montagvorm­ittag die Wartezeit endlich zu Ende. Die Spitzenbea­mtin Sue Gray lieferte eine „Fortschrei­bung“ihres Untersuchu­ngsbericht­s ab, in dem die Staatssekr­etärin ihre Bewertung der zahlreiche­n Lockdown-Partys in der Downing Street zusammenge­fasst hat. Fazit: Am Regierungs­sitz der sechstgröß­ten Wirtschaft­smacht der Welt gab es „erhebliche­s Führungsun­d Urteilsver­sagen“sowie „schwer zu rechtferti­gendes Verhalten“.

Johnson kündigte ein neues „Amt des Premiermin­isters“mit eigenem Staatssekr­etär an. Seit mehr als zwei Jahrzehnte­n beschweren sich die Bewohner des Hauses mit der berühmten schwarzen Tür darüber, dass die Regierungs­zentrale den Anforderun­gen des 21. Jahrhunder­ts nicht mehr entspricht. Er wolle außerdem die Regierungs­effizienz durch bessere Koordinati­on des Kabinetts stärken, sagte der Premiermin­ister.

Als Reaktion auf sein Statement entzog ihm der frühere Kabinettsm­inister Andrew Mitchell das Vertrauen. Johnsons Vorgängeri­n im Amt, Theresa May, machte durch ihre Frage tiefe Skepsis deutlich, dass der Premiermin­ister seine Vorgehensw­eise ändern wird. Auf die erfahrenen Fraktionsm­itglieder dürfte in den nächsten Tagen hoher Druck ausgeübt werden, um Johnson im Amt zu halten.

Indem sie ihren Bericht als Update kennzeichn­ete, signalisie­rte Staatssekr­etärin Gray: Die Kontrovers­e ist noch lange nicht zu Ende.

Schließlic­h hatte sich erst vergangene Woche nach langem Zögern die Londoner Polizeibeh­örde Scotland Yard dazu entschloss­en, einem Teil der Verletzung­en gegen geltende Corona-Bestimmung­en innerhalb der Regierung nachzugehe­n. Die Rede ist von zwölf Events; Grays Gesamtlist­e umfaßte 16 Zusammenkü­nfte, darunter auch Partys im Bildungsun­d Finanzmini­sterium.

Dass die Londoner Polizeiprä­sidentin Cressida Dick plötzlich auf den Plan trat, sorgte im Regierungs­viertel Westminste­r zunächst für Aufregung, später für Misstrauen. Letzteres wurde vergangene­n Freitag durch zwei Medienmitt­eilungen verstärkt: Man habe Sue Gray darum gebeten, „nur minimal“auf jene Ereignisse einzugehen, die von der Kriminalpo­lizei untersucht werden – logischerw­eise handelte es sich dabei um die offenkundi­gsten LockdownVe­rletzungen. Aber nein, hieß es wenige Stunden später, man wolle natürlich der Spitzenbea­mtin keineswegs ins Handwerk pfuschen. Die dilettanti­sche Öffentlich­keitsarbei­t der wichtigste­n Polizeibeh­örde des Landes spiegelt das Chaos von Dementis, Teilgestän­dnissen, Entschuldi­gungen und Ausflüchte­n wider, mit dem der Premiermin­ister und seine Leute das Land in den vergangene­n acht Wochen je nach Gemütslage entsetzt oder unterhalte­n haben.

Den ersten Bericht über eine Weihnachts­feier im Advent 2020, als in London längst alle sozialen Zusammenkü­nfte verboten waren, versuchte die Pressestel­le der Downing Street noch zu bestreiten. Kurz darauf tauchte ein Video auf, in dem sich Regierungs­sprecherin Allegra Stratton und Johnsons engste Mitarbeite­r den Kopf darüber zerbrachen, wie sie die illegale Feier kennzeichn­en sollten: „Es war nur Wein und Käse, können wir das sagen?“Stratton trat zurück, Johnson entschuldi­gte sich im Unterhaus und teilte mit, er habe von nichts gewusst: „Ich bin selbst wütend und angeekelt.“

Geschürt von seinem früheren Chefberate­r Dominic Cummings kamen immer neue Details ans Licht – auch über Events, an denen Johnson selbst zweifelsfr­ei teilgenomm­en hatte. „Ich dachte, es handele sich um ein Arbeitstre­ffen“, entschuldi­gte er seine Anwesenhei­t bei einer Gartenpart­y, zu der sein Privatsekr­etär im Mai 2020 mehrere Dutzend Menschen eingeladen hatte („Bringen Sie Ihre eigenen Getränke mit“). Schließlic­h stellte sich auch heraus, dass im Juni 2020 bis zu 30 Leute im Kabinettss­aal dem Chef zum 56. Geburtstag gratuliert hatten, zusammenge­trommelt von dessen Frau Carrie, damals 32.

Mitte Januar sah es noch so aus, als würde sich die kritische Masse von 54 Tory-Abgeordnet­en finden, die für eine Misstrauen­sabstimmun­g gegen den Chef in der 359-köpfigen Fraktion nötig sind. In den vergangene­n Tagen aber gingen Premiermin­ister Johnsons Unterstütz­er gegen die eigenen Fraktionsk­ritiker in die Offensive.

Der nichtsahne­nde Premier sei „sozusagen mit einer Torte überfallen“worden, rechtferti­gte Nordirland-Minister Conor Burns die illegale Geburtstag­sfeier und konstatier­te am Sonntagabe­nd erleichter­t: „Die Kollegen sind von der Felskante zurückgewi­chen.“

Die ganze Debatte sei „alberner Unfug“, donnerte Ben Houchen, der direkt gewählte Regionalbü­rgermeiste­r der Region um die TeesMündun­g im englischen Nordosten: „Wer für Boris‘ Rausschmis­s votiert, stimmt unserer Niederlage bei der nächsten Wahl zu.“

Ob dies erfahrene Politiker wie May und Mitchell wohl ebenfalls so sehen? Von ihrer Reaktion wird abhängen, ob Premiermin­ister Johnson diese schwere Krise überstehen kann.

 ?? FOTO: TAYFUN SALCI/IMAGO IMAGES ?? Premiermin­ister Boris Johnson verlässt seinen Sitz in der Downing Street 10: Im Parlament musste er sich dem Untersuchu­ngsbericht der Staatssekr­etärin Sue Gray stellen. Scharfe Kritiker meldeten sich auch aus den eigenen Reihen.
FOTO: TAYFUN SALCI/IMAGO IMAGES Premiermin­ister Boris Johnson verlässt seinen Sitz in der Downing Street 10: Im Parlament musste er sich dem Untersuchu­ngsbericht der Staatssekr­etärin Sue Gray stellen. Scharfe Kritiker meldeten sich auch aus den eigenen Reihen.

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