Boris Johnson will sich bessern
Britischer Premierminister nach Bericht zu Lockdown-Partys weiter unter Druck
LONDON - Der Premierminister ist „ein Mann ohne Schamgefühl, für höchste Ämter ungeeignet“– die Veröffentlichung eines ersten Berichts über die zahlreichen Lockdown-Partys in der Downing Street hat Labour-Oppositionschef Keir Starmer zu einem brutalen Angriff auf Boris Johnsons Charakter und Urteilsfähigkeit genutzt. Im Unterhaus geriet der Regierungschef am Montagnachmittag auch unter schweren Beschuss von Parteifreunden. Er wolle die Arbeitsweise in der Regierungszentrale verbessern, beteuerte Johnson: „Ich mache weiter meinen Job.“
Nach wochenlangem Rätselraten war am späten Montagvormittag die Wartezeit endlich zu Ende. Die Spitzenbeamtin Sue Gray lieferte eine „Fortschreibung“ihres Untersuchungsberichts ab, in dem die Staatssekretärin ihre Bewertung der zahlreichen Lockdown-Partys in der Downing Street zusammengefasst hat. Fazit: Am Regierungssitz der sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gab es „erhebliches Führungsund Urteilsversagen“sowie „schwer zu rechtfertigendes Verhalten“.
Johnson kündigte ein neues „Amt des Premierministers“mit eigenem Staatssekretär an. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschweren sich die Bewohner des Hauses mit der berühmten schwarzen Tür darüber, dass die Regierungszentrale den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr entspricht. Er wolle außerdem die Regierungseffizienz durch bessere Koordination des Kabinetts stärken, sagte der Premierminister.
Als Reaktion auf sein Statement entzog ihm der frühere Kabinettsminister Andrew Mitchell das Vertrauen. Johnsons Vorgängerin im Amt, Theresa May, machte durch ihre Frage tiefe Skepsis deutlich, dass der Premierminister seine Vorgehensweise ändern wird. Auf die erfahrenen Fraktionsmitglieder dürfte in den nächsten Tagen hoher Druck ausgeübt werden, um Johnson im Amt zu halten.
Indem sie ihren Bericht als Update kennzeichnete, signalisierte Staatssekretärin Gray: Die Kontroverse ist noch lange nicht zu Ende.
Schließlich hatte sich erst vergangene Woche nach langem Zögern die Londoner Polizeibehörde Scotland Yard dazu entschlossen, einem Teil der Verletzungen gegen geltende Corona-Bestimmungen innerhalb der Regierung nachzugehen. Die Rede ist von zwölf Events; Grays Gesamtliste umfaßte 16 Zusammenkünfte, darunter auch Partys im Bildungsund Finanzministerium.
Dass die Londoner Polizeipräsidentin Cressida Dick plötzlich auf den Plan trat, sorgte im Regierungsviertel Westminster zunächst für Aufregung, später für Misstrauen. Letzteres wurde vergangenen Freitag durch zwei Medienmitteilungen verstärkt: Man habe Sue Gray darum gebeten, „nur minimal“auf jene Ereignisse einzugehen, die von der Kriminalpolizei untersucht werden – logischerweise handelte es sich dabei um die offenkundigsten LockdownVerletzungen. Aber nein, hieß es wenige Stunden später, man wolle natürlich der Spitzenbeamtin keineswegs ins Handwerk pfuschen. Die dilettantische Öffentlichkeitsarbeit der wichtigsten Polizeibehörde des Landes spiegelt das Chaos von Dementis, Teilgeständnissen, Entschuldigungen und Ausflüchten wider, mit dem der Premierminister und seine Leute das Land in den vergangenen acht Wochen je nach Gemütslage entsetzt oder unterhalten haben.
Den ersten Bericht über eine Weihnachtsfeier im Advent 2020, als in London längst alle sozialen Zusammenkünfte verboten waren, versuchte die Pressestelle der Downing Street noch zu bestreiten. Kurz darauf tauchte ein Video auf, in dem sich Regierungssprecherin Allegra Stratton und Johnsons engste Mitarbeiter den Kopf darüber zerbrachen, wie sie die illegale Feier kennzeichnen sollten: „Es war nur Wein und Käse, können wir das sagen?“Stratton trat zurück, Johnson entschuldigte sich im Unterhaus und teilte mit, er habe von nichts gewusst: „Ich bin selbst wütend und angeekelt.“
Geschürt von seinem früheren Chefberater Dominic Cummings kamen immer neue Details ans Licht – auch über Events, an denen Johnson selbst zweifelsfrei teilgenommen hatte. „Ich dachte, es handele sich um ein Arbeitstreffen“, entschuldigte er seine Anwesenheit bei einer Gartenparty, zu der sein Privatsekretär im Mai 2020 mehrere Dutzend Menschen eingeladen hatte („Bringen Sie Ihre eigenen Getränke mit“). Schließlich stellte sich auch heraus, dass im Juni 2020 bis zu 30 Leute im Kabinettssaal dem Chef zum 56. Geburtstag gratuliert hatten, zusammengetrommelt von dessen Frau Carrie, damals 32.
Mitte Januar sah es noch so aus, als würde sich die kritische Masse von 54 Tory-Abgeordneten finden, die für eine Misstrauensabstimmung gegen den Chef in der 359-köpfigen Fraktion nötig sind. In den vergangenen Tagen aber gingen Premierminister Johnsons Unterstützer gegen die eigenen Fraktionskritiker in die Offensive.
Der nichtsahnende Premier sei „sozusagen mit einer Torte überfallen“worden, rechtfertigte Nordirland-Minister Conor Burns die illegale Geburtstagsfeier und konstatierte am Sonntagabend erleichtert: „Die Kollegen sind von der Felskante zurückgewichen.“
Die ganze Debatte sei „alberner Unfug“, donnerte Ben Houchen, der direkt gewählte Regionalbürgermeister der Region um die TeesMündung im englischen Nordosten: „Wer für Boris‘ Rausschmiss votiert, stimmt unserer Niederlage bei der nächsten Wahl zu.“
Ob dies erfahrene Politiker wie May und Mitchell wohl ebenfalls so sehen? Von ihrer Reaktion wird abhängen, ob Premierminister Johnson diese schwere Krise überstehen kann.