„Kein Tag ohne Buch“
Warum Literaturkritikerin und Autorin Elke Heidenreich Männer dazu bringen will, mehr Bücher von Frauen zu lesen
Elke Heidenreich ist Deutschlands bekannteste Literaturkritikerin und selbst erfolgreiche Autorin. Mit ihrer Leseautobiografie, dem Spiegel-Bestseller „Hier geht’s lang“, macht sie während ihrer Lesereise auch halt im Alten Kloster in Bad Saulgau. In ihrem Buch stellt Heidenreich (79) die Literatur von Frauen vor, die sie in ihren jeweiligen Lebensphasen besonders geprägt haben. Einen Kanon der weiblichen Literatur will sie damit nicht vorgeben und schon gleich gar nicht eine Frauenbuchquote propagieren. Aber Männer zu inspirieren, mehr Bücher von Frauen zu lesen, würde Elke Heidenreich gefallen, wie sie im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“erzählt.
Frau Heidenreich, in Ihrem Buch „Hier geht’s lang“schreiben Sie: „Literatur ist Literatur, egal, ob von Männern oder Frauen geschrieben.“Aber schreiben Frauen und Männer nicht anders?
Ja klar! Nur ist die Gewichtung in der öffentlichen Wahrnehmung oft anders. Wenn Männer schreiben, ist es quasi automatisch Literatur. Wenn Frauen schreiben, bekommt das hingegen sofort den Stempel „Frauenliteratur“aufgedrückt, also von Frauen über Frauen für Frauen. Gegen diese Einschränkung wehre ich mich. Natürlich schreiben Frauen anders als Männer. Sie sind ja auch anders, haben einen anderen Körper, sie nehmen die Welt anders wahr, und sie leben anders. Sie ticken einfach ganz anders.
Worin liegt der Unterschied?
Es geht hier nicht um den Schreibstil. Der mag keine geschlechtsspezifischen Unterschiede aufweisen. Weil Frauen aber einen anderen Blick auf die Welt haben, schreiben sie vielleicht emphatischer. Und die Inhalte handeln oft von anderen Themen: Es geht häufiger um das Innenleben der Protagonisten oder wie sie mit ihrer Stellung in einem äußeren Gefüge, wie zum Beispiel der Familie, klarkommen. Ich selbst habe mich mit weiblicher Literatur schon sehr früh mehr identifizieren können als mit männlicher. Ein Buch von Virginia Woolf zum Beispiel war näher an meinem Leben dran als eines von Ernest Hemingway. Über das Meer zu jagen, den Kilimandscharo in Rekordzeit zu besteigen oder heiße Sexabenteuer zu erleben, standen nicht ganz oben auf meiner Liste. Später habe ich darum neben den Büchern von Männern auch gezielt und mehr Bücher von Frauen ausgesucht und gelesen.
Sie haben aber sicher früher auch nicht nur Werke der Weltliteratur gelesen – und genossen ... Natürlich habe ich wie alle anderen Mädchen in meiner Jugend auch
„Der Trotzkopf“von Emmy von Rhoden gelesen oder später „Angélique“von Anne Golon. Das hat mir sogar gefallen. Diese Geschichten sind ja gut gestrickt. Aber sie sind natürlich Quatsch und machen literarisch nicht glücklich. Irgendwann war die Zeit reif für Besseres. Schon nach drei Sätzen aus „Madame Bovary“von Gustave Flaubert oder „Kein Ort. Nirgends“von Christa Wolf kennt man den Unterschied zwischen Kitsch und großer Literatur.
Hat sich die Art, wie Frauen schreiben, über die Jahrzehnte Ihres Lesens geändert?
Frauen haben literarisch mächtig aufgeholt. Sie haben sich auch mehr an die männliche Literatur angeglichen. Sie dürfen jetzt endlich mehr und anders schreiben. Sie sind freier und gleichzeitig haben sich die Erwartungen an sie verändert.
Stimmt es, dass Männer sich nicht für die Bücher von Frauen interessieren?
Wenn mir ein Mann sagt, er würde Bücher von Frauen nicht lesen, ist das Gespräch über Literatur für mich erledigt. Ich nehme an, Männer interessieren sich weniger für das Leben der Frauen als umgekehrt. Zwar bin ich mehr von der Literatur von Frauen fasziniert, aber ich lese deshalb trotzdem Bücher von Männern. Ich denke, es täte unseren Beziehungen ganz gut, vielleicht wären sie angenehmer und schöner, wenn Männer sich mehr mit Frauenliteratur beschäftigen würden. Vielleicht tut sich da jetzt auch was. In meinen Lesungen auf jeden Fall sitzen seit ein paar Jahren immer mehr Männer. Vielleicht ermutigt die eine oder andere Frau ihren Partner dann schon mal auch zum Lesen von Büchern weiblicher Autoren. Ein Hoffnungsschimmer.
Männer lesen anders, sie schreiben anders. Kritisieren sie auch anders? Wie man Bücher kritisiert, ist auch Charaktersache. Natürlich gibt es bestimmte Kriterien, die ein gutes Buch erfüllen muss: Das Gerüst muss stimmen, die Geschichte, vor allem die Sprache, die Charaktere, die Atmosphäre, es muss neugierig machen und so weiter. Aber in der Gesamtbetrachtung bin ich vielleicht etwas gnädiger als manch männlicher Literaturkritiker. Bücher in die Tonne zu schmeißen ist auf jeden Fall nicht mein Stil. Wenn mir ein Buch nicht gefällt – und das weiß ich nach etwa 60 Seiten – schweige ich einfach darüber, und das war’s. Aber gegen konstruktive Verrisse im Stil von Marcel ReichRanicki ist nichts einzuwenden.
Sie nennen in Ihrem Buch viele Bücher, die Sie in Ihrem Leben begleitet und geprägt haben. Welches liegt Ihnen zur Zeit besonders am Herzen?
In meinem Leben vergeht kein Tag ohne Buch. Neben Romanen lese ich sehr gern Lyrik. Die Gedichte der polnischen Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska sind mir in letzter Zeit sehr nah ans Herz gewachsen. Ohne sie könnte ich nicht mehr sein. Ich nehme ihre Bücher deshalb sogar überall mit auf Reisen.
Ihr nächstes Buch erscheint schon im August ...
Ich bin in meinem Leben sehr viel gereist. „Ihr glücklichen Augen“ist eine Sammlung von Städteporträts. Ich schreibe darin über meine Erlebnisse in rund 40 Städten, die ich ohne Reiseführer und abseits der allseits bekannten Sehenswürdigkeiten besucht habe. Ich folge für gewöhnlich nicht den ausgetretenen Pfaden, sondern bahne mir meine eigenen Wege.
Die Lesungen von Elke Heidenreich in der Region sind bereits alle ausverkauft.