Ein Himmelreich für die Bratwurst
Wie ein fränkischer Metzger mit Wurst für alle Lebenslagen Touristen und Feinschmecker glücklich macht
RITTERSBACH - Die Frage drängt sich schon nach ein paar Minuten Gespräch mit Claus Böbel auf, und zwar: Kann ein ganzes Leben sich nur um die Wurst drehen? Böbel selber würde die Frage wahrscheinlich gar nicht so richtig verstehen, denn Bratwurst ist für ihn schlichtweg ein Lebensgefühl und nichts könnte je daran falsch sein. Denn wie ein Metzger die Zubereitung der echten fränkischen Bratwurst an bestimmten Regeln ausrichtet, hat Claus Böbel praktisch sein ganzes Leben an eben dieser Wurst ausgerichtet, die für ihn viel mehr als Nahrung und Existenz ist. Sie steht bei Böbel im Rang einer Religion. Und er selbst versteht sich als Hohepriester der Bratwurstmasse. Oder wie der Metzger selber von sich sagt: „Ich bin der Botschafter der fränkischen Bratwurst.“Wenn es um vegane Ernährung geht, wird Böbel allerdings gänzlich undiplomatisch, wie sich bei der Führung durch sein Bratwursthotel – dem einzigen seiner Art auf der Welt – noch zeigen wird.
Es beginnt an der Rezeption. Claus Böbel bringt einen kleinen Teller. Auf dem liegt ein in Herzform ausgestochenes Brot mit Bratwurstgehäck – so heißt das fränkische Pendant des Mett in Rittersbach. Der kleine Ort ist südlich von Nürnberg gelegen. Und wenn man Claus Böbel, dem Metzger und Hotelier, glaubt, ist er es, der das Dorf irgendwo im fränkischen Nirgendwo wieder auf die Landkarte gesetzt hat. „Oder glauben Sie, jemand von außerhalb weiß wo Rittersbach liegt, weil wir hier so eine schöne Kirche haben?“Sein Hotel aber kenne man. Vor allem auch im Ausland. Wie bestellt, schleppt sich gerade ein Mann aus Portugal die Treppe hoch. Am Abend wird eine Familie aus den Niederlanden das Bratwurstmenü im Wurstaurant testen. Und ein Vater-Sohn-Duo aus Schweden wird mutig einen sehr gewöhnungsbedürftigen Schluck vom Aperitif nehmen, in dem nicht nur Wursträdchen schwimmen, sondern auch Blut seine farbgebende Rolle spielt. Und auch die wurstlastige Nachspeise wird den Gästen noch lange in Erinnerung bleiben.
Das, was Claus Böbel in seinem Hotel auf die Beine gestellt hat, fällt in die Kategorie der Erlebnis- und Themengastronomie. Darunter versteht man zum Beispiel Hotels, die sich ganz bewusst und bis ins Detail einer bestimmten Interessensgruppe widmen. Literaturfreunde können in Bücherhotels schwelgen, wo der Lesestoff niemals ausgeht. Für Fans von Hochprozentigem bietet sich ein Whisky-Hotel an. Auf diversen Schlössern lässt sich ritterlich das Haupt betten – zum Beispiel auf Schloss Waldburg im Kreis Ravensburg. Und in Warthausen bei Biberach ist es der Geruch von Öl, der die Gäste ins Motorworld Inn zieht. Diese automobile Wunderwelt richtet sich an Schrauber und Bastler mit Benzin im Blut. Das Licht strömt von Kronleuchtern aus Felgen.
Beim Baden-Württembergischen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) führt niemand genau Buch über Anzahl und Art solcher besonderen Herbergen, die einen außergewöhnlichen Erlebniswert bieten, statt nur schnödes Essen aufzutischen oder ein profanes Bett zur Verfügung zu stellen. Sprecher Daniel Ohl sagt: „Die Idee, etwas über das reine Übernachten hinaus zu bieten, hat sich bewährt und als gut erwiesen.“Wobei auch Geschäftsreisende gerne mal aus dem typischen Schema zweckmäßiger Business-Hotels ausbrächen und sich auch dienstlich am Extravaganten erfreuten.
Bei den Böbels in Rittersbach ist die Bratwurst-Manie derart fortgeschritten, dass der Chef mit Stolz sagt: „Sie werden bei uns keinen einzigen Quadratmeter im Haus finden, wo nicht irgend etwas an unser Logo oder die Bratwurst erinnert.“Das gilt auch für die Flure und Treppenaufgänge. Im Erdgeschoss etwa steht ein großes Regal, in dem Claus Böbel Dosenwurst aus aller Welt sammelt. „Da können die Leute tauschen.“Jemand bringt eine Wurstdose aus seiner Heimat ins Hotel mit – und bekommt eine aus der Böbel‘schen Kollektion.
Überhaupt ist dem Bratwurst-Hotelier die Interaktion mit dem Gast wichtig. Der ganze Flur in der ersten Etage ist ein offenes Gästebuch, an das die Besucher ihre Anmerkungen an die Wand kritzeln dürfen. Die Themenzimmer – stets vom allumspannenden Motto Bratwurst dominiert – erzählen Geschichten. Eines ist mit Bratwurstfotos aus aller Welt gepflastert. Auch hier wieder Böbels
Aufruf, Fotos zu senden, zu tauschen und im Hotel zu verewigen. Mit einem geschäftstüchtigen Zwinkern sagt Claus Böbel: „Das gehört alles zu unserem Marketing. Jeder Gast ist Botschafter für unser Hotel.“Wobei sein Fränkisch das Wort Marketing in etwa so schnarren lässt: „Marrrgeding“. Nicht von Böbels Wurstwunderwelt zu sprechen, wenn man einmal da war, ist schlechterdings gar nicht möglich. Gerade auch, weil der fränkische Slang und die eindringliche Stimmlage des Chefs auch noch Tage nach der Reise im Kopf nachhallen.
Bei aller wunderlichen Anmutung, die das Hotel und Böbels brutzelnde Leidenschaft verbindet, ist das Konzept der Familie eine notwendige Überlebensstrategie. Vor dem Umbau 2018 war der Betrieb in klassische Metzgerei und Wirtshaus unterteilt. Und ein Ort wie Rittersbach mit seinen 350 Einwohnern ist eigentlich prädestiniert für das Schicksal, das so viele Dörfer ereilt hat: das Sterben von Metzgereien und Gasthäusern. „Auch mit einem ganz normalen Hotel kommen sie an so einem Standort nicht weiter“, erklärt Böbel. „Also“, habe er sich gedacht, „wenn Rittersbach nicht der Mittelpunkt der Welt ist, hole ich halt die Welt nach Rittersbach“.
Als gelernter Metzger und bekennender Bratwurst-Liebhaber war ihm schnell klar, welches Thema sein Hotel einmal haben würde. Jetzt verfügt das Haus über sieben Zimmer. Neun Menschen arbeiten in der Metzgerei und dem Beherbergungsbetrieb. Eine stolze Zahl, wenn man bedenkt, wie es um die Infrastruktur auf dem Land meistens bestellt ist.
Für Daniel Ohl vom Dehoga hat Erlebnisgastronomie auch etwas mit dem Trend zu tun, sich auf die Region zurückzubesinnen, in der ein Betrieb steht. „Die Inszenierung von Regionalität als Thema wird immer stärker betont. Und das hat sich auch bewährt.“Ohl nennt ein Hotel in Metzingen, das die Schwäbische Alb bis hin zu den Brettern fürs Bett aus nahegelegenen Albwäldern zelebriert. „Storytelling ist eine wichtige Sache dabei.“
Damit ist gemeint, dass der Hotelier mit seinem Angebot eine Geschichte erzählt. Stimmig, nachvollziehbar und glaubwürdig. „Ein Konzept, das das Thema auch wirklich trägt.“Bloß irgendwo ein paar Zwiebeln in den Flur zu hängen, und dann zu behaupten, man sei ein Zwiebelhotel, reicht da nicht.
An der orthodoxen Bratwursthaftigkeit von Claus Böbels Hotel kommt indes in keiner Sekunde auch nur der Hauch eines Zweifels auf. Ganz im Gegenteil, manchmal ist es sogar ein bisschen zu viel. Etwa sein Versprechen, beim Abendmenü – mit bis zu zehn Gängen – kein einziges Element zu servieren, das keine Wurst enthält. Bei der bunten Bratwurstplatte mit neun Wurstzipfeln unterschiedlicher Geschmacksrichtungen ergibt das noch einigermaßen Sinn. Beim heiteren Aromen-Raten von Kaffee, Meerrettich, Erdbeere oder Whiskey kommt am großen internationalen Gemeinschaftstisch richtig Stimmung auf. Beim Dunkelbier mit Hartwurst-Einlage wird die Angelegenheit dann doch ein bisschen strapaziös. Ebenso der Moment, als der Chef das Eis mit Stückchen von luftgetrockneter Wurst serviert. Der Begeisterung der beiden Schweden kann das allerdings keinerlei Abbruch tun. Und sie fallen selig in die Kissen ihres als Bratwursthimmel bezeichneten Zimmers.
Dort zieren Wurstmotive jedweder Art als Tapete die Wände. Über dem Bett hängt als Alternative zu den üblichen süßen Betthupferln zwei Hartwürste von der Decke. Neben dem Waschtisch im Bad sind keine Handtuchhalter angebracht, sondern massive Fleischerhaken halten die Tücher. Die Seife ist – wie könnte es anderes sein – einer Bratwurst nachempfunden. Die Garderobe ist aus dem gleichen Material wie jenes, an dem in der Metzgerei nebenan die Schweinehälften hängen. Ein gepolsterter Hocker ist einer Wurstdose nachempfunden. Als Kofferablage dient ein niedriger Tisch aus Edelstahl, wie er an der Metzgereitheke üblich ist. Auf den Betten liegen Kissen im Bratwurstformat aus Filz, die eine Künstlerin extra fürs Hotel anfertigt. Hinter dem Hotel prangt auf einer Scheunenwand ein überdimensionales Gemälde, das sich Claus Böbel zu seinem 50. Geburtstag vor zwei Jahren hat pinseln lassen. Es zeigt eine stilisierte Szenerie vor der Kulisse Rittersbachs. Im Vordergrund räkelt sich der Länge nach eine fränkische Bratwurst. Das Bild ist der berühmten Darstellung des Dichterfürsten Goethe von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein nicht unähnlich.
Böbels Obsession bedingt es, dass eine Aufzählung aller die Bratwurst betreffenden Details auch nach 24 Stunden Aufenthalt lückenhaft bleiben muss. Der Hinweis, dass bereits mehr als 3200 Menschen bei einem der Bratwurstkurse in Rittersbach mitgemacht haben, ist dem Chef allerdings wichtig. Außerdem, dass die Hälfte seines Metzgerei-Umsatzes inzwischen nicht mehr im Laden, sondern im Internet stattfindet. Und manchmal erklingt das typische Zischen beim Öffnen einer Wurstdose – etwa mit Lakritz oder Eierlikör – auch im fernen Neuseeland, wo Böbel Kundschaft hat. Seine Internetadresse www.umdiewurst.de heißt nicht von ungefähr so.
Der Mann scheint ein großer Herz zu haben für fast alle Gäste. Bis auf Vegetarierer, die er gar nicht erst im Haus haben möchte. Weil er findet, dass die Toleranz, die Menschen, die auf Fleisch verzichten, für sich einfordern, selbst nicht zu geben bereit seien. Böbel erzählt die Geschichte einer Tagungsgruppe, die das ganze Haus gebucht hätte, wäre der Hotelier nur bereit gewesen, beim Abendmenü für eine Person etwas Vegetarisches zu servieren. Da habe er gesagt: „Wenn sie mir ein vegetarisches Restaurant zeigen, in dem ich ausnahmsweise eine echte Bratwurst oder ein saftiges Stück Fleisch essen kann, dann kriegen Sie auch was Vegetarisches.“Die Tagung im Bratwursthotel wurde daraufhin abgeblasen, weil niemand in der Lage gewesen sei, ihm so ein Restaurant zu nennen.
Für einen Vegetarier – von einem Veganer ganz zu schweigen – muss das Frühstück nach einer angenehmen Nacht im Wurst-Zimmer aber wirklich ein Albtraum sein: Nussnougat-Creme mit Wursteinlage. Knäckebrot der Geschmacksrichtung Bratwurst. Apfelgelee mit Wurstscheiben. Wurst-Müsli-Riegel. Presssack. Bratwurstgehäck. Als Einziges, so scheint es fast, ist nur der Kaffee wurstfrei. Aber bei Böbel weiß man nie.
Für Claus Böbel, der weder von tierschutz- noch von klimaschutzpolitischen Selbstzweifeln geplagt zu sein scheint, hat die fränkische Bratwurst, wie er sie in Rittersbach zelebriert, das Familienunternehmen und damit die Zukunft gerettet. „Ich lebe diese Idee aus vollem Herzen, ich arbeite sie nicht bloß ab“, betont er immer wieder. Dass das alles ein bisschen verrückt ist, weiß Böbel schon selber. Es gehe beim Bratwursthotel aber schließlich nicht um irgendwas, sondern eben um die Wurst. Und also ums Ganze.