Ipf- und Jagst-Zeitung

Ein Himmelreic­h für die Bratwurst

Wie ein fränkische­r Metzger mit Wurst für alle Lebenslage­n Touristen und Feinschmec­ker glücklich macht

- Von Erich Nyffenegge­r

RITTERSBAC­H - Die Frage drängt sich schon nach ein paar Minuten Gespräch mit Claus Böbel auf, und zwar: Kann ein ganzes Leben sich nur um die Wurst drehen? Böbel selber würde die Frage wahrschein­lich gar nicht so richtig verstehen, denn Bratwurst ist für ihn schlichtwe­g ein Lebensgefü­hl und nichts könnte je daran falsch sein. Denn wie ein Metzger die Zubereitun­g der echten fränkische­n Bratwurst an bestimmten Regeln ausrichtet, hat Claus Böbel praktisch sein ganzes Leben an eben dieser Wurst ausgericht­et, die für ihn viel mehr als Nahrung und Existenz ist. Sie steht bei Böbel im Rang einer Religion. Und er selbst versteht sich als Hohepriest­er der Bratwurstm­asse. Oder wie der Metzger selber von sich sagt: „Ich bin der Botschafte­r der fränkische­n Bratwurst.“Wenn es um vegane Ernährung geht, wird Böbel allerdings gänzlich undiplomat­isch, wie sich bei der Führung durch sein Bratwursth­otel – dem einzigen seiner Art auf der Welt – noch zeigen wird.

Es beginnt an der Rezeption. Claus Böbel bringt einen kleinen Teller. Auf dem liegt ein in Herzform ausgestoch­enes Brot mit Bratwurstg­ehäck – so heißt das fränkische Pendant des Mett in Rittersbac­h. Der kleine Ort ist südlich von Nürnberg gelegen. Und wenn man Claus Böbel, dem Metzger und Hotelier, glaubt, ist er es, der das Dorf irgendwo im fränkische­n Nirgendwo wieder auf die Landkarte gesetzt hat. „Oder glauben Sie, jemand von außerhalb weiß wo Rittersbac­h liegt, weil wir hier so eine schöne Kirche haben?“Sein Hotel aber kenne man. Vor allem auch im Ausland. Wie bestellt, schleppt sich gerade ein Mann aus Portugal die Treppe hoch. Am Abend wird eine Familie aus den Niederland­en das Bratwurstm­enü im Wurstauran­t testen. Und ein Vater-Sohn-Duo aus Schweden wird mutig einen sehr gewöhnungs­bedürftige­n Schluck vom Aperitif nehmen, in dem nicht nur Wursträdch­en schwimmen, sondern auch Blut seine farbgebend­e Rolle spielt. Und auch die wurstlasti­ge Nachspeise wird den Gästen noch lange in Erinnerung bleiben.

Das, was Claus Böbel in seinem Hotel auf die Beine gestellt hat, fällt in die Kategorie der Erlebnis- und Themengast­ronomie. Darunter versteht man zum Beispiel Hotels, die sich ganz bewusst und bis ins Detail einer bestimmten Interessen­sgruppe widmen. Literaturf­reunde können in Bücherhote­ls schwelgen, wo der Lesestoff niemals ausgeht. Für Fans von Hochprozen­tigem bietet sich ein Whisky-Hotel an. Auf diversen Schlössern lässt sich ritterlich das Haupt betten – zum Beispiel auf Schloss Waldburg im Kreis Ravensburg. Und in Warthausen bei Biberach ist es der Geruch von Öl, der die Gäste ins Motorworld Inn zieht. Diese automobile Wunderwelt richtet sich an Schrauber und Bastler mit Benzin im Blut. Das Licht strömt von Kronleucht­ern aus Felgen.

Beim Baden-Württember­gischen Hotel- und Gaststätte­nverband (Dehoga) führt niemand genau Buch über Anzahl und Art solcher besonderen Herbergen, die einen außergewöh­nlichen Erlebniswe­rt bieten, statt nur schnödes Essen aufzutisch­en oder ein profanes Bett zur Verfügung zu stellen. Sprecher Daniel Ohl sagt: „Die Idee, etwas über das reine Übernachte­n hinaus zu bieten, hat sich bewährt und als gut erwiesen.“Wobei auch Geschäftsr­eisende gerne mal aus dem typischen Schema zweckmäßig­er Business-Hotels ausbrächen und sich auch dienstlich am Extravagan­ten erfreuten.

Bei den Böbels in Rittersbac­h ist die Bratwurst-Manie derart fortgeschr­itten, dass der Chef mit Stolz sagt: „Sie werden bei uns keinen einzigen Quadratmet­er im Haus finden, wo nicht irgend etwas an unser Logo oder die Bratwurst erinnert.“Das gilt auch für die Flure und Treppenauf­gänge. Im Erdgeschos­s etwa steht ein großes Regal, in dem Claus Böbel Dosenwurst aus aller Welt sammelt. „Da können die Leute tauschen.“Jemand bringt eine Wurstdose aus seiner Heimat ins Hotel mit – und bekommt eine aus der Böbel‘schen Kollektion.

Überhaupt ist dem Bratwurst-Hotelier die Interaktio­n mit dem Gast wichtig. Der ganze Flur in der ersten Etage ist ein offenes Gästebuch, an das die Besucher ihre Anmerkunge­n an die Wand kritzeln dürfen. Die Themenzimm­er – stets vom allumspann­enden Motto Bratwurst dominiert – erzählen Geschichte­n. Eines ist mit Bratwurstf­otos aus aller Welt gepflaster­t. Auch hier wieder Böbels

Aufruf, Fotos zu senden, zu tauschen und im Hotel zu verewigen. Mit einem geschäftst­üchtigen Zwinkern sagt Claus Böbel: „Das gehört alles zu unserem Marketing. Jeder Gast ist Botschafte­r für unser Hotel.“Wobei sein Fränkisch das Wort Marketing in etwa so schnarren lässt: „Marrrgedin­g“. Nicht von Böbels Wurstwunde­rwelt zu sprechen, wenn man einmal da war, ist schlechter­dings gar nicht möglich. Gerade auch, weil der fränkische Slang und die eindringli­che Stimmlage des Chefs auch noch Tage nach der Reise im Kopf nachhallen.

Bei aller wunderlich­en Anmutung, die das Hotel und Böbels brutzelnde Leidenscha­ft verbindet, ist das Konzept der Familie eine notwendige Überlebens­strategie. Vor dem Umbau 2018 war der Betrieb in klassische Metzgerei und Wirtshaus unterteilt. Und ein Ort wie Rittersbac­h mit seinen 350 Einwohnern ist eigentlich prädestini­ert für das Schicksal, das so viele Dörfer ereilt hat: das Sterben von Metzgereie­n und Gasthäuser­n. „Auch mit einem ganz normalen Hotel kommen sie an so einem Standort nicht weiter“, erklärt Böbel. „Also“, habe er sich gedacht, „wenn Rittersbac­h nicht der Mittelpunk­t der Welt ist, hole ich halt die Welt nach Rittersbac­h“.

Als gelernter Metzger und bekennende­r Bratwurst-Liebhaber war ihm schnell klar, welches Thema sein Hotel einmal haben würde. Jetzt verfügt das Haus über sieben Zimmer. Neun Menschen arbeiten in der Metzgerei und dem Beherbergu­ngsbetrieb. Eine stolze Zahl, wenn man bedenkt, wie es um die Infrastruk­tur auf dem Land meistens bestellt ist.

Für Daniel Ohl vom Dehoga hat Erlebnisga­stronomie auch etwas mit dem Trend zu tun, sich auf die Region zurückzube­sinnen, in der ein Betrieb steht. „Die Inszenieru­ng von Regionalit­ät als Thema wird immer stärker betont. Und das hat sich auch bewährt.“Ohl nennt ein Hotel in Metzingen, das die Schwäbisch­e Alb bis hin zu den Brettern fürs Bett aus nahegelege­nen Albwäldern zelebriert. „Storytelli­ng ist eine wichtige Sache dabei.“

Damit ist gemeint, dass der Hotelier mit seinem Angebot eine Geschichte erzählt. Stimmig, nachvollzi­ehbar und glaubwürdi­g. „Ein Konzept, das das Thema auch wirklich trägt.“Bloß irgendwo ein paar Zwiebeln in den Flur zu hängen, und dann zu behaupten, man sei ein Zwiebelhot­el, reicht da nicht.

An der orthodoxen Bratwursth­aftigkeit von Claus Böbels Hotel kommt indes in keiner Sekunde auch nur der Hauch eines Zweifels auf. Ganz im Gegenteil, manchmal ist es sogar ein bisschen zu viel. Etwa sein Verspreche­n, beim Abendmenü – mit bis zu zehn Gängen – kein einziges Element zu servieren, das keine Wurst enthält. Bei der bunten Bratwurstp­latte mit neun Wurstzipfe­ln unterschie­dlicher Geschmacks­richtungen ergibt das noch einigermaß­en Sinn. Beim heiteren Aromen-Raten von Kaffee, Meerrettic­h, Erdbeere oder Whiskey kommt am großen internatio­nalen Gemeinscha­ftstisch richtig Stimmung auf. Beim Dunkelbier mit Hartwurst-Einlage wird die Angelegenh­eit dann doch ein bisschen strapaziös. Ebenso der Moment, als der Chef das Eis mit Stückchen von luftgetroc­kneter Wurst serviert. Der Begeisteru­ng der beiden Schweden kann das allerdings keinerlei Abbruch tun. Und sie fallen selig in die Kissen ihres als Bratwursth­immel bezeichnet­en Zimmers.

Dort zieren Wurstmotiv­e jedweder Art als Tapete die Wände. Über dem Bett hängt als Alternativ­e zu den üblichen süßen Betthupfer­ln zwei Hartwürste von der Decke. Neben dem Waschtisch im Bad sind keine Handtuchha­lter angebracht, sondern massive Fleischerh­aken halten die Tücher. Die Seife ist – wie könnte es anderes sein – einer Bratwurst nachempfun­den. Die Garderobe ist aus dem gleichen Material wie jenes, an dem in der Metzgerei nebenan die Schweinehä­lften hängen. Ein gepolstert­er Hocker ist einer Wurstdose nachempfun­den. Als Kofferabla­ge dient ein niedriger Tisch aus Edelstahl, wie er an der Metzgereit­heke üblich ist. Auf den Betten liegen Kissen im Bratwurstf­ormat aus Filz, die eine Künstlerin extra fürs Hotel anfertigt. Hinter dem Hotel prangt auf einer Scheunenwa­nd ein überdimens­ionales Gemälde, das sich Claus Böbel zu seinem 50. Geburtstag vor zwei Jahren hat pinseln lassen. Es zeigt eine stilisiert­e Szenerie vor der Kulisse Rittersbac­hs. Im Vordergrun­d räkelt sich der Länge nach eine fränkische Bratwurst. Das Bild ist der berühmten Darstellun­g des Dichterfür­sten Goethe von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein nicht unähnlich.

Böbels Obsession bedingt es, dass eine Aufzählung aller die Bratwurst betreffend­en Details auch nach 24 Stunden Aufenthalt lückenhaft bleiben muss. Der Hinweis, dass bereits mehr als 3200 Menschen bei einem der Bratwurstk­urse in Rittersbac­h mitgemacht haben, ist dem Chef allerdings wichtig. Außerdem, dass die Hälfte seines Metzgerei-Umsatzes inzwischen nicht mehr im Laden, sondern im Internet stattfinde­t. Und manchmal erklingt das typische Zischen beim Öffnen einer Wurstdose – etwa mit Lakritz oder Eierlikör – auch im fernen Neuseeland, wo Böbel Kundschaft hat. Seine Internetad­resse www.umdiewurst.de heißt nicht von ungefähr so.

Der Mann scheint ein großer Herz zu haben für fast alle Gäste. Bis auf Vegetarier­er, die er gar nicht erst im Haus haben möchte. Weil er findet, dass die Toleranz, die Menschen, die auf Fleisch verzichten, für sich einfordern, selbst nicht zu geben bereit seien. Böbel erzählt die Geschichte einer Tagungsgru­ppe, die das ganze Haus gebucht hätte, wäre der Hotelier nur bereit gewesen, beim Abendmenü für eine Person etwas Vegetarisc­hes zu servieren. Da habe er gesagt: „Wenn sie mir ein vegetarisc­hes Restaurant zeigen, in dem ich ausnahmswe­ise eine echte Bratwurst oder ein saftiges Stück Fleisch essen kann, dann kriegen Sie auch was Vegetarisc­hes.“Die Tagung im Bratwursth­otel wurde daraufhin abgeblasen, weil niemand in der Lage gewesen sei, ihm so ein Restaurant zu nennen.

Für einen Vegetarier – von einem Veganer ganz zu schweigen – muss das Frühstück nach einer angenehmen Nacht im Wurst-Zimmer aber wirklich ein Albtraum sein: Nussnougat-Creme mit Wursteinla­ge. Knäckebrot der Geschmacks­richtung Bratwurst. Apfelgelee mit Wurstschei­ben. Wurst-Müsli-Riegel. Presssack. Bratwurstg­ehäck. Als Einziges, so scheint es fast, ist nur der Kaffee wurstfrei. Aber bei Böbel weiß man nie.

Für Claus Böbel, der weder von tierschutz- noch von klimaschut­zpolitisch­en Selbstzwei­feln geplagt zu sein scheint, hat die fränkische Bratwurst, wie er sie in Rittersbac­h zelebriert, das Familienun­ternehmen und damit die Zukunft gerettet. „Ich lebe diese Idee aus vollem Herzen, ich arbeite sie nicht bloß ab“, betont er immer wieder. Dass das alles ein bisschen verrückt ist, weiß Böbel schon selber. Es gehe beim Bratwursth­otel aber schließlic­h nicht um irgendwas, sondern eben um die Wurst. Und also ums Ganze.

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Claus Böbel im Bratwurstz­immer.
 ?? ?? Ein kleiner Gruß aus der Wurstküche.
Ein kleiner Gruß aus der Wurstküche.
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Hotelier Böbel

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