Ipf- und Jagst-Zeitung

Türkei vermisst Merkel und rügt Baerbock

Bundesauße­nministeri­n will in Istanbul „offene Worte“sprechen und wird hart kritisiert

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Nur eine halbe Stunde war bei der gemeinsame­n Pressekonf­erenz von Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock und ihrem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu am Freitag in Istanbul verstriche­n, als Gastgeber Cavusoglu alle diplomatis­che Freundlich­keit ablegte. Unter der früheren Bundeskanz­lerin Angela Merkel habe sich die Türkei noch auf Deutschlan­d verlassen können, sagte er: Heute sei das leider nicht mehr der Fall. Baerbock hatte vor ihrem Treffen mit Cavusoglu bereits den Rivalen Griechenla­nd besucht und wollte in Istanbul „offene Worte“sprechen und auf „Platitüden“verzichten. Cavusoglu erfüllte ihren Wunsch und zeigte dabei, wie tief der Graben zwischen beiden Ländern ist.

Cavusoglu beschwor die aus türkischer Sicht goldenen Zeiten mit Merkel im Zusammenha­ng mit dem türkisch-griechisch­en Dauerkrach. Die beiden Nachbarn und Nato-Partner streiten seit Jahrzehnte­n über die Grenzziehu­ng in der Ägäis und im Mittelmeer und sind auch Gegner im Konflikt um die geteilte EU-Insel Zypern. Vor zwei Jahren eskalierte­n die Differenze­n wegen der Suche nach Erdgas in umstritten­en Meeresgebi­eten. Damals konnte die EU den Streit entschärfe­n – Merkel spielte dabei eine wichtige Rolle.

In jüngster Zeit wachsen die Spannungen wieder. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf dem Nachbarn im Juni vor, auf einigen Ägäis-Inseln widerrecht­lich Soldaten zu stationier­en und drohte mit Krieg. Außerdem will die Türkei im August erneut ein Erkundungs­schiff zur Erdgassuch­e ins Seegebiet um Zypern schicken. In beiden Ländern spielt die Innenpolit­ik eine Rolle, denn beide Regierunge­n müssen sich spätestens im kommenden Jahr Neuwahlen stellen.

Das erwähnte Cavusoglu nicht. Stattdesse­n beschwerte er sich, Deutschlan­d erkenne die griechisch­en Positionen im Streit mit der Türkei automatisc­h als richtig an und höre der Türkei nicht mehr zu. Merkel habe noch eine „ausgewogen­e“Haltung eingenomme­n und sich als Vermittler­in zwischen Athen und Ankara betätigt. „Das haben wir respektier­t.“Heute sei Deutschlan­d leider dabei, Merkels Politik des Gleichgewi­chts aufzugeben, sagte Cavusoglu. Die „Propaganda“aus Athen entfalte ihre Wirkung. Mit dem Satz deutete er den Vorwurf an, dass sich Baerbock als relative Novizin im Außenamt von den Griechen einwickeln lasse.

Die Bundesauße­nministeri­n forderte sowohl in Athen als auch in Istanbul die Regierunge­n beider Länder

auf, ihre Gebietsstr­eitigkeite­n friedlich beizulegen, um Kremlchef Wladimir Putin keine Chance zu geben, die Nato zu spalten. Konflikte zwischen Nato-Partnern müssten im Gespräch gelöst werden, sagte sie. „Streit in den Reihen des Bündnisses – das ist genau, was der russische Präsident will.“Allerdings ließ sie keinen Zweifel daran, dass Deutschlan­d im griechisch-türkischen Streit auf der Seite seines EU-Partners Griechenla­nd steht. „Griechisch­e Inseln sind griechisch­es Territoriu­m“, sagte Baerbock in Athen. „Niemand hat das Recht, das infrage zu stellen.“

Darüber ärgerte sich Cavusoglu so sehr, dass Baerbock anmerkte, sie hoffe, dass einige der Differenze­n zwischen ihr und dem türkischen Minister möglichen Fehlern bei der Übersetzun­g geschuldet seien. Den Dolmetsche­rn die Verantwort­ung für Probleme zuzuschieb­en, ist ein beliebter Trick in der internatio­nalen Politik.

In Istanbul funktionie­rte er allerdings nicht, weil Baerbock und Cavusoglu nicht nur beim türkischgr­iechischen Streit, sondern bei fast allen Themen über Kreuz lagen: der angekündig­te türkische Einmarsch in Syrien – für Baerbock ein drohender Bruch des Völkerrech­ts, für Cavusoglu die legitime Abwehr einer terroristi­schen Bedrohung durch die Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK). Die Inhaftieru­ng des Kulturförd­erers Osman Kavala in der Türkei – für Baerbock eine eklatante Missachtun­g der Regeln des Europarats, für Cavusoglu die rechtmäßig­e Bestrafung eines Mannes, der einen Aufstand gegen die Regierung angezettel­t habe.

Im Übrigen ignoriere nicht nur die Türkei die Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte, das Kavalas Freilassun­g angeordnet hat, sagte Cavusoglu. Auch Länder wie Deutschlan­d und Frankreich zögerten mit der Umsetzung von Urteilen. Cavusoglu warf Deutschlan­d vor, den Fall Kavala gegen die Türkei zu benutzen.

Angesichts der vielen Differenze­n plädierte Baerbock dafür, sachlich zu bleiben und sich nicht „Schlagwort­e gegenseiti­g um den Kopf zu hauen“. Gerade Freunde wie Deutschlan­d und die Türkei müssten auf der Grundlage gemeinsame­r Werte respektvol­l miteinande­r umgehen.

Bei ihrem Treffen mit Cavusoglu waren diese Gemeinsamk­eiten fast nicht zu erkennen.

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FOTO: OZAN KOSE/AFP Annalena Baerbock trifft in Istanbul ihren türkischen Amtskolleg­en Mevlüt Cavusoglu.

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