Strategische Zweideutigkeit
Ungeachtet lautstarker Drohungen aus Peking reist US-Speakerin Nancy Pelosi nach Taiwan
WASHINGTON - Der Begriff der „strategischen Zweideutigkeit“im Umgang mit Taiwan erhält durch die Reise der Speakerin eine ganz konkrete Bedeutung. Nancy Pelosi hatte angekündigt, sie werde im Rahmen ihrer Asienreise auch einen Abstecher auf die abtrünnige Insel machen. Dies wäre der erste hochrangige US-Besuch, seit der Republikaner Newt Gingrich in derselben Rolle vor 25 Jahren nach Taiwan kam.
Die Volksrepublik China betrachtet die Insel als Teil ihres Staatsgebiets und beansprucht den alleinigen Vertretungsanspruch. Nur dreizehn Staaten und der Vatikan erkennen die Souveränität Taiwans an. Dazu gehören nicht die USA, die seit Richard Nixon legendärer Reise vor einem halben Jahrhundert in das Reich der Mitte eine sogenannte „Ein-China“-Politik verfolgen.
Über vier Jahrzehnte hat das den Schwebezustand der Insel festgeschrieben. Die USA erkennen die Souveränität Chinas an, das im Gegenzug darauf verzichtet, seinen Machtanspruch militärisch durchzusetzen.
Selbst der Besuch amerikanischer Hinterbänkler wird von Peking deshalb als Provokation und Verletzung der „Ein-China“-Politik verstanden. Erst recht der von Speakerin Pelosi, die nach dem Präsidenten und Vizepräsidenten laut Verfassung die dritthöchste Repräsentantin der USA ist.
Bonnie S. Glaser vom German Marshall Fund weist in der New York Times darauf hin, dass Pelosi in China zudem verhasst ist, „weil sie Peking wegen der Verletzung von Menschenrechten Druck gemacht hat.“Sie bezog klar Position zu der Situation in Tibet wie auch im Umgang mit den Uiguren. „Ihr Besuch brächte die Spannungen auf ein ganz anderes Niveau.“Das machte Präsident Xi in der fast zweieinhalbstündigen Videoschalte mit seinem amerikanischen Kollegen deutlich. „Wer mit dem Feuer spielt, wird im Feuer umkommen“, warnte der chinesischen Machthaber US-Präsident Biden. „Es bleibt die Hoffnung, dass die USA sich darüber klar sind.“Aus dem Mund des mächtigen Mannes, der im Herbst auf dem Parteitag der KP eine dritte Amtszeit anstrebt, klingt das nachdrücklicher als die aggressiven Äußerungen aus dem Außenministerium. Biden versicherte seinem Gegenüber, dass es keine Änderung an der „Ein-China“-Politik gebe. Seit seinem Amtsantritt vor achtzehn Monaten hatte der Präsident selber wiederholt Zweifel daran aufkommen lassen. Das Weiße Haus musste Aussagen Bidens anschließend zurechtrücken, in denen er Taiwan als „unabhängig“bezeichnet und versprochen hatte, sie zu verteidigen. Offiziell verfolgen die USA eine Politik der „strategischen Zweideutigkeit“, die offen lässt, wie die Amerikaner im Fall eines Angriffs auf die Insel reagieren. Ohne es öffentlich zu sagen, ist das Weiße Haus unglücklich mit den Reiseplänen Pelosis.
Die amerikanischen Streitkräfte halten die Situation angesichts der Spannungen in der Region ebenfalls für ungünstig. Die amerikanische Zusammenfassung des Gesprächs mit Xi ließ offen, wie sich Biden zu dem geplanten Besuch der Speakerin positioniert hat.
Expertin Glaser und ihr Kollege Zack Cooper vom American Enterprise Institute halten die Reise für „zu gefährlich“und strategisch „unklug“. Sie käme zu einem Zeitpunkt, an dem Xi gegenüber seinen eigenen Leuten Stärke beweisen müsse. Härte gegenüber Taiwan zu demonstrieren, gehört ebenso dazu, wie der Anspruch einer Wiedereingliederung der Insel in das Staatsgebiet der Volksrepublik. China habe kein Interesse an einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den USA, meinen Glaser und Cooper, „aber sie könnten geneigt sein, Pelosis Flugzeug herauszufordern oder erstmals direkt mit Kampfflugzeugen über Taiwan zu fliegen.“Beides habe das Potenzial zu einer Eskalation. Pelosi ließ bei ihrer Abreise nach Asien am Freitag offen, ob sie dem Druck nachgeben wird oder an ihrem Besuch in Taiwan festhält. Falls sie sich dafür entscheidet, findet sie Unterstützung bei Stimmen auf dem linken und rechten Flügel des politischen Spektrums, die ein Einknicken vor Peking als Zeichen der Schwäche werten. Sie weisen darauf hin, dass Präsident Xi den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine abgesegnet hat.