Ipf- und Jagst-Zeitung

„Putin kennt uns“

Altbundesp­räsident Joachim Gauck über die Neigung der Deutschen zur Angst, falsch verstanden­en Pazifismus, Waffenlief­erungen an die Ukraine sowie die Gefährdung­en der Demokratie von innen und außen

- Von Claudia Kling und Jochen Schlosser

- Joachim Gaucks Blick auf das postsowjet­ische Russland war seit Jahren kritisch. Kritischer als jener vieler Landsleute, auch vieler Politiker, die oft erst nach dem Beginn des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine ihre Position überdacht haben. Nun war der Bundespräs­ident a. D. zu Gast in Oberschwab­en. Auf Einladung des Bundestags­abgeordnet­en Axel Müller (CDU) sprach er bei der „Schockenho­ff-Lecture“, einer Veranstalt­ung zu Ehren des verstorben­en, früheren Russlandbe­auftragten der Bundesregi­erung aus Ravensburg. Im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“spricht der 83-Jährige über den russischen Präsidente­n Wladimir Putin, die militärisc­he Hilfe für die Ukraine, die Krise der Demokratie – und warum es sich lohnt, sie zu verteidige­n.

Herr Gauck, die G7-Staaten haben in Hiroshima weitere Waffenhilf­e für die Ukraine beschlosse­n und den Weg für Kampfjets frei gemacht. Ist es für Sie ein Widerspruc­h, dass gerade an diesem Ort, der wie wenige andere für die Schrecken des Krieges steht, Militärhil­fen zugesagt wurden?

Nein, das ist kein Widerspruc­h, sondern das ist eine Lehre aus der Geschichte. Sowohl der aggressive Imperialis­mus Japans als auch der widerwärti­ge Vernichtun­gskrieg Hitler-Deutschlan­ds wurden beendet durch Waffen und durch Armeen. Denen, die heute so tun, als wären Waffen automatisc­h eine Verschlimm­erung des Kriegsgesc­hehens, muss man das immer wieder in Erinnerung rufen. Die hören das nicht gern, aber es ist ein Faktum.

Bei der militärisc­hen Unterstütz­ung der Ukraine wurden auch von deutscher Seite immer wieder neue rote Linien gezogen, die dann überschrit­ten wurden. Haben auch Sie rote Linien definiert? Und wenn ja, welche? Nein. Ich finde es auch anmaßend und politisch schädlich, dass deutsche Intellektu­elle, zum Teil auch deutsche Politiker, so tun, als wären wir diejenigen, die die Richtung bestimmen müssten, wie sich die Ukraine zu verteidige­n oder eben nicht zu verteidige­n hat. Das ist für mich deshalb anmaßend, weil wir nicht die direkt Betroffene­n sind. Natürlich will Putin auch unsere Freiheit und Demokratie bekämpfen, aber die unmittelba­r Betroffene­n sind die Ukrainer. Es ist ein schlichtes menschlich­es Gebot, dass einem überfallen­en Opfer Hilfe zuteilwird.

Die Gegner von Waffenlief­erungen argumentie­ren, dass so weitere Todesopfer vermieden werden könnten. Ist das kein gutes Argument?

Ich nehme diese Menschen durchaus ernst, aber ich kann ihrer Argumentat­ion nicht folgen. Die Folgerung, dass der Krieg früher beendet wäre, wenn wir weniger Waffen schicken würden, ist zwar nachvollzi­ehbar, aber was wäre der Preis dafür? Das würde bedeuten, dass ein Aggressor nur genügend militärisc­he Fähigkeite­n auffahren muss, um ein Land und seine Menschen zu unterwerfe­n. Und können wir ernsthaft erwarten, dass Menschen widerstand­slos ihre Freiheit gegen Unterdrück­ung, Folter, Deportatio­nen und Vergewalti­gungen eintausche­n? Dies wäre ein fatales Signal – und es übersieht eben auch die Erfahrung, die die Welt im vorigen Jahrhunder­t mit dem aggressive­n Gebaren Deutschlan­ds gemacht hat. Die Leute, die bei Waffenlief­erungen auf rote Linien verweisen, versetzen sich in den Kopf Putins. Die überlegen sich, welche Empfindung­en der Aggressor hat, statt sich in die Köpfe der Opfer zu versetzen. Deren Gefühle und Nöte sollten uns vorrangig interessie­ren.

Manche Menschen treibt zudem die Angst um, dass Deutschlan­d durch Waffenlief­erungen Kriegsteil­nehmer wird – und einen russischen Atomschlag provoziere­n könnte. Verstehen Sie diese Ängste? Ängste verstehe ich wohl, Ängste sind menschlich. Aber zu meinen Lebenserfa­hrungen gehört, dass wir schlecht beraten sind, wenn wir nur unseren Ängsten folgen. Putin kennt uns, er nutzt eine bei vielen zu erkennende deutsche Neigung zur Angst aus, die hat er eingepreis­t. Er hofft, dass er nur drohen muss und dann wirkt diese Drohung wie eine Waffe. Und er weiß, wie viele sogenannte Friedensfr­eunde, Romantiker, Idealisten und Russlandve­rsteher es in Deutschlan­d gibt, auf die er auch über seinen Geheimdien­st Einfluss nehmen kann. Unsere Politiker, Militärs und auch eine deutliche Mehrheit der Menschen im Land sind darauf aber nicht hereingefa­llen.

Sie sind also für die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine – ohne Rücksicht auf etwaige russische Reaktionen?

Wenn wir der Ukraine Waffen liefern, liefern wir sie zum Zwecke der Verteidigu­ng gegen einen Kriegsbran­dstifter und Aggressor. Das ist kein Konflikt, an dem beide Seiten schuld sind, wie es der brasiliani­sche Präsident Lula da Silva irrigerwei­se annimmt. Es ist völlig klar, wer der Schuldige und wer das überfallen­e Opfer ist. Wir sollten den Ukrainern die Mittel geben, die sie zur Verteidigu­ng ihres Landes brauchen.

Bundeskanz­ler Olaf Scholz stand immer wieder wegen seiner angeblich zu zögerliche­n Haltung bei Waffenlief­erungen für die Ukraine in der Kritik. Hätten Sie sich mehr Tempo gewünscht?

Der Bundeskanz­ler war nach seiner epochalen Zeitenwend­e-Rede im vergangene­n Februar lange Zeit in einer Phase, in der wir seine Entschloss­enheit nicht erkennen konnten, wenn sie denn da war. Jeder politische Beobachter konnte sehen, dass unmittelba­r auf seine Zeitenwend­e-Rede keine Zeitenwend­e-Politik folgte. Mein Unbehagen hat sich inzwischen allerdings gelegt, weil er ja doch Schritt für Schritt die Haltung entwickelt hat, die Ukraine substanzie­ll zu unterstütz­en.

Sie waren nicht nur Bundespräs­ident und Leiter der Stasi-Unterlagen­behörde, sondern zu DDR-Zeiten auch Pastor. Steht Ihr Eintreten für Waffen und einen wehrhaften Staat nicht im Widerspruc­h zur christlich­en Friedensbo­tschaft? Oder ist das zu naiv gedacht?

Für mich ist das kein Widerspruc­h. Ich habe genauso christlich­e Gründe für meine Position wie die frühere EKD-Ratsvorsit­zende und Pazifistin Margot Käßmann für ihre. Es gibt christlich­e Gründe, einem überfallen­en Opfer beizustehe­n. Wenn sich Menschen verteidige­n, denen Unrecht geschieht, würde ich von einem gerechtfer­tigten Krieg sprechen. Dies entspricht auch der Haltung der evangelisc­hen Kirche. Es ist nicht so, dass Christen automatisc­h Pazifisten sind. Wir sollten nur mit äußerster Energie danach trachten, nie wieder militarist­isch zu werden, so wie Deutschlan­d es in früheren Epochen seiner Geschichte war. Dafür gibt es heute allerdings nicht die geringsten Anzeichen. Wir

Deutsche dürfen Vertrauen haben in unsere Bundeswehr, eine Armee der Demokratie.

Ist der Militarism­us, den Sie angesproch­en haben, einer der Gründe, warum ein Teil der Bevölkerun­g jedwede kriegerisc­he Handlung ablehnt?

Ich bin im Krieg geboren, nach dem Krieg entwickelt­e sich als Antwort auf den mörderisch­en deutschen Militarism­us ein weit verbreitet­er Pazifismus. Ich habe zu DDR-Zeiten einen taktischen Pazifismus an den Tag gelegt, um die Kommuniste­n mit ihrer Militarisi­erung des Landes infrage zu stellen. Aber selbst war ich nie pazifistis­ch eingestell­t, ich gehörte auch nicht zu den Wehrdienst­verweigere­rn. Ausschlagg­ebend dafür war für mich die Einsicht, dass die Hitler-Diktatur militärisc­h niedergeru­ngen worden war. Deshalb war der Pazifismus als politische­s Programm für mich immer ein Irrweg. Die Welt ist nicht so, wie wir sie uns wünschen. Im Gegenteil: Mit unseren Wunschbild­ern von der realen Welt verkennen wir reale Bedrohunge­n und machen damit oft schwere politische Fehler.

Auch in Ihrem Buch „Erschütter­ungen“kritisiere­n Sie den Pazifismus der Deutschen, da er das Potenzial habe, Autokraten in die Hände zu spielen. War dieser Pazifismus nicht aber eine Voraussetz­ung, um von anderen Ländern nicht mehr als Aggressor wahrgenomm­en zu werden?

Der Pazifismus hatte seine Berechtigu­ng im Nachkriegs­deutschlan­d. Ganz normale Mänhung ner waren im Zweiten Weltkrieg zu Mördern geworden, diese Verkommenh­eit einer ganzen Nation war auch für mich schwer zu ertragen. Auch das kollektive Schweigen darüber im Nachkriegs­deutschlan­d. Wenn ich im Westen gelebt hätte, wäre ich deshalb mit Sicherheit ein 68er geworden. Aber mit der Zeit hätten die Deutschen erkennen müssen, dass ihre Friedferti­gkeit sie nicht dabei hindern darf, angemessen auf die Wirklichke­it in der Welt zu reagieren. Wenn es um die innere Sicherheit geht, tun wir doch auch nicht so, als wären unsere Psychother­apeuten, Pfarrer und Studienrät­e imstande, diese zu garantiere­n. Dafür haben wir Polizisten und Staatsanwä­lte. Und für die äußere Sicherheit brauchen wir eben unsere Bundeswehr und Verteidigu­ngsbündnis­se wie die Nato.

Was ist Ihnen wichtiger: Frieden oder Freiheit?

Frieden als Friedhofsr­uhe ist mir nicht wichtig. Ich möchte Frieden in Freiheit.

Sie sind 1940 geboren, haben die deutsche Teilung und die Wiedervere­inigung erlebt. Von 2012 bis 2017 waren Sie als Bundespräs­ident höchster Repräsenta­nt des deutschen Staates. Wenn Sie auf die aktuelle politische Situation in Deutschlan­d schauen, sind Sie dann eher entspannt oder in Sorge? Ich war mein Leben lang zuversicht­lich und hoffnungsf­ähig. Trotzdem bin ich gewisser Weise erschrocke­n und erschütter­t, wie es auch der Titel meines Buches sagt, weil ich auch eine Bedro

der Freiheit aus der Freiheit heraus beobachte. Bevölkerun­gsteile driften ab nach Rechtsauße­n in nationalpo­pulistisch­e Bewegungen und Parteien. Das ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisch­es und internatio­nales Phänomen, wie auch die Wahl von Donald Trump zum USPräsiden­ten auf erschrecke­nde Weise gezeigt hat. Ich habe die Sorge, dass illiberale Demokratie­n ein Modell werden könnten, das sich viele Menschen wünschen.

Und wie ist Ihre Prognose: Ist unsere Demokratie imstande, diese Herausford­erung zu überstehen?

Ja. Wenn wir begreifen, dass auch in einer liberalen Demokratie Führung angesagt ist. Gerade in Krisenzeit­en braucht es Führungsfi­guren in der Politik und nicht nur Moderatore­n. Wir erleben eine Zeit des überaus starken Wandels, die verbunden ist mit Ängsten. Die Finanzkris­e, die Zuwanderun­g, der Klimawande­l, die Corona-Pandemie, die Künstliche Intelligen­z – all das verunsiche­rt die Menschen. Wenn dann keine klare Führung zu erkennen ist, bewirtscha­ften die Populisten die Ängste und Sorgen der Bevölkerun­g.

In der Corona-Pandemie hat der Staat ja stärker als je zuvor eingegriff­en und zum Schutz der Bürger ihre Rechte beschnitte­n. Das kam aber auch nicht bei allen gut an.

Ja, einige waren auf dem Baum, aber die Mehrheit der Deutschen wünschte sich diese oder jene strengere Maßnahme. Mich haben die Freiheitse­inschränku­ngen in der Pandemie nicht so bewegt, weil ich in Deutschlan­d keinen Politiker sehe, der zum autoritäre­n Regieren neigt. Ich sehe eher das Gegenteil davon. Das Problem ist, dass einige Menschen ihre, ich nenne es Ego-Freiheit, mit allgemeine­r Freiheit verwechsel­n. Sie denken, wer ihre Freiheit einschränk­t, sei ein Gegner der Freiheit. Das aber ist zu simpel gedacht. Freiheit bedeutet immer zweierlei: Freiheit von etwas und zu etwas. Und es geht auch immer um die Freiheit der anderen.

Sie haben vorhin gesagt, wir leben in Krisenzeit­en. Dennoch ist unsere Wirtschaft­slage vergleichs­weise stabil und die Arbeitslos­igkeit gering. Wie erklären Sie die guten Umfragewer­te der AfD? Ernstzuneh­mende Studien belegen, dass in den europäisch­en Bevölkerun­gen rund ein Drittel der Bürger strukturko­nservativ geprägt ist. Das sind Menschen, denen Sicherheit lieber ist als Freiheit, die den Wandel fürchten und die keine Risiken mögen. Wenn ihnen in Krisenzeit­en das Gefühl der Sicherheit und des Vertrauten genommen wird, dann driften sie ab. Für uns bedeutet das: Die AfD besteht nicht nur aus Nazis und Extremiste­n, sondern mehrheitli­ch aus Verunsiche­rten – wobei der Anteil der Radikalen leider zunimmt. Wir müssten Strategien entwickeln, um den Menschen, die verunsiche­rt sind, klarzumach­en, dass es keinen Grund gibt, durchzudre­hen.

In Ihrem Buch analysiere­n Sie die gesellscha­ftliche Spaltung in Deutschlan­d. Aber es fehlen Lösungsans­ätze, wie Kritiker angemerkt haben. Was wäre am dringlichs­ten?

Mein Buch endet mit einem Plädoyer für die liberale und offene Demokratie. Dieses Modell hat Vorzüge, die andere nicht haben, nirgendwo hat der Einzelne mehr Rechte, mehr Möglichkei­ten, mehr Freiheit. Das ist im Grunde meine Antwort, mehr habe ich nicht anzubieten. Für mich ist das eine Wiederentd­eckung von etwas, was anderen Menschen schon so selbstvers­tändlich ist, dass sie die Werthaltig­keit nicht mehr erkennen. Meine Rolle als Bundespräs­ident wie auch jetzt ist es zu sagen: Leute, da habt ihr etwas, das haben wir schwer errungen, das ist kostbar und das werden wir bitte verteidige­n.

Joachim Gauck, Helga Hirsch: Erschütter­ungen. Siedler Verlag, 24 Euro.

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FOTO:S FELIX KÄSTLE Der Altbundesp­räsident zu Gast in Ravensburg: Joachim Gauck als Redner bei der „Schockenho­ff Lecture“im Schwörsaal.
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