Stille ist weiß
Abseits ausgetretener Pfade wandern – Auf der Via Silenzi in Graubünden ist das wörtlich zu verstehen
Wer Glück hat, sieht Gämsen. Wer noch mehr Glück hat, sieht Bartgeier. Shetan und Poncho sieht jeder, sie traben nach Fahrplan. Die beiden Pferde ziehen einen Schlitten von Scuol im Unterengadin nach S-charl. Morgens, nachmittags und nach Bedarf. Der Pferdeschlitten ist die einzige Anbindung des Dorfes im gleichnamigen Tal S-charl in der Engadiner Bergwelt, zumindest im Winter. Und er bildet den Einstieg zu einer zweitägigen Schneeschuhwanderung. Via Silenzi heißt sie, Weg der Stille.
„Wir machen eine Alpenüberquerung“, hat Chantal Lörtscher uns gleich klargemacht. Der Pass da Costainas, über den es am ersten Tag geht, ist Teil des Alpenhauptkamms. Ebenso der Ofenpass, unser Ziel für den zweiten Tag. Chantal Lörtscher, früher Grenzwächterin, heute Bergführerin, ist hier zu Hause, sie stammt aus dem Val Müstair, jenseits des Passes da Costainas. Seit einigen Jahren führt sie Schneeschuhwanderer auf der Via Silenzi durch die Bergwelt des Schweizer Kantons Graubünden, und weil sie zu Beginn der Tour den Fitnessstand ihrer Schützlinge noch nicht kennt, sagt sie am Abend vor dem ersten Wandertag: „Es wird nie schlimm. Es ist einfach nur lang.“Es soll beruhigend klingen.
Geruhsam zuckelt der Schlitten ins Dorf S-charl, eine Ansammlung von Häuschen, die im Sommer vor allem Jäger aus Scuol bewohnen. Im Winter schrumpft die Einwohnerzahl deutlich. Dominique Mayor, Chef des Gasthauses Mayor, hält die Stellung. Und dann ist da noch ein Mann, der gerade im Tiefschnee um die Hausecke stapft und kurz grüßt, als der Schlitten mitten auf dem Dorfplatz zum Stehen kommt. „Das ist der andere Einwohner von S-charl“, sagt Chantal.
„Ich könnte nicht in einer Stadt arbeiten“, erzählt Dominique Mayor, als er sich später, nachdem das Käsefondue abgetragen ist, zu seinen Gästen setzt. In S-charl ist er nicht nur Hotelier. Er ist Feuerwehrmann, Mitarbeiter des Wetterdienstes, Verwalter sämtlicher Hausschlüssel und Betriebsleiter der Kläranlage, alles in einem. Er ist auch Mitglied im Stiftungsrat des Bergbaumuseums, das in den Sommermonaten offen hat. In früheren Jahrhunderten wurden hier Silber und Blei abgebaut. „S-charl ist groß geworden durch den Bergbau“, erzählt Mayor. Der Ort hat, wie gesagt, zwei Einwohner.
Ins Gästehaus Mayor kommen Menschen, die Ruhe suchen – und Winterwanderer. Mayor erinnert sich noch, als in den 1980er-Jahren die Schneeschuhe aufkamen: „Die ersten waren selbst gebastelt und aus Bambus.“Inzwischen sind sie hoch technisierte Spezialgeräte, die schnell mehrere Hundert Euro kosten können. Wir
schnallen sie am anderen Morgen unter die Füße, und machen uns, nach einer Überprüfung der Lawinenwarngeräte, auf den Weg.
Das Pensum für den ersten Tag sind sechs Stunden Fußmarsch und 400 Höhenmeter ab S-charl, das selbst schon auf 1800 Metern Höhe liegt. Wer diese Strecke im Sommer als Wanderer bewältigt, kann dies mit Schneeschuhen an den Füßen auch bei Tiefschnee schaffen, hat Chantal Lörtscher erläutert.
Der Schnee glitzert in der aufgehenden Sonne, der Weg führt zunächst einen verschneiten Fahrweg entlang, dann hinein ins Gelände. Schneeschuhe und Stöcke helfen, den Weg zu bewältigen. Tatsächlich ist das Laufen
nicht viel anstrengender als bei einer Sommerwanderung. Anders wirkt aber die Landschaft: Weiß ist der Weg, weiß sind die Hänge, die Berge, die ganze Welt. Die Gruppe läuft im Gänsemarsch. Der Rhythmus der Schritte hat beinahe etwas Meditatives, vor allem, wenn der Name Via Silenzi, Weg der Stille, nicht nur die weiße Winterwelt beschreibt, sondern auch die Wandergruppe selbst.
Irgendwann am Vormittag ist der God da Tamangur erreicht, ein Waldstück, dass im Selbstverständnis der hier ansässigen Rätoromanen eine besondere Rolle spielt. Es handelt sich um den größten zusammenhängenden Arvenwald Europas, erläutert
Chantal Lörtscher – als Arve bezeichnet man in Graubünden jene Kiefernart, die in Tirol Zirbe genannt wird. Dieser Wald wird in hiesigen Liedern besungen und in Erzählungen beschrieben als ein Ebenbild der Rätoromanen selbst: knorrig, beharrlich, widerstandsfähig und untrennbar mit der Bündner Bergwelt verbunden. Die Wanderführerin zieht ein Handy aus der Tasche und spielt ein Lied über den Tamangur ab: Melancholische Klänge liegen über der einsamen Schneelandschaft.
Einen lang gezogenen, aber sanften Anstieg später ist der Pass da Costainas erreicht, dann geht es hinab ins Val Müstair, das rein geografisch gesehen schon nicht mehr zum Engadin zählt. Es öffnet sich nach Südtirol, die Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt. Kurz vor dem Etappenziel bildet die Alp Champatsch eine willkommene Anlaufstelle, es gibt heißen Kaffee, Bier und Apfelmost.
Den Abend verbringen wir im Bergort Santa Maria, dessen stattliche alte Steinhäuser vom Wohlstand dank der Lage an Handelswegen zeugen. Beim Spaziergang durch den Ort stoßen wir auf Überraschendes: eine Weberei, in der Stoffe noch von Hand vor Ort produziert werden, und die laut Guinnessbuch der Rekorde kleinste Whiskybar der Welt. Gästehäuser wie das „Crusch Alba“warten als Prunkzimmer mit einer komplett vertäfelten Arvenstube
auf – aus dem streng geschützten Tamangur stammt das Holz dafür natürlich nicht.
Am nächsten Morgen weht ein strenger Wind, über dem Grat wirbelt er Schneefahnen auf. Chantal Lörtscher entscheidet, dass wir den eigentlich vorgesehenen Weg, der uns auf 2400 Meter Höhe bringen würde, nicht gehen können. Auch 200 Meter tiefer bekommen wir noch Böen von 60 Stundenkilometern ab. Genug, um einen Schneeschuhwanderer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vorsichtig arbeiten wir uns oberhalb der Alp Champatsch, zu der wir zunächst wieder aufgestiegen sind, am Steilhang vorwärts. Als markanter Gipfel hebt sich auf der anderen Seite des Tals, schon in Südtirol, der Ortler vom Horizont ab, am Himmel kreist ein Steinadler. Auch Gämsen sind mehrfach am Hang zu sehen. Am Mittag queren wir die Zivilisation in Form des Skigebietes Minschuns, dann geht es – bei inzwischen etwas ruhigerem Wetter – hinauf zum Ofenpass. Damit ist die Landstraße erreicht und auch die Haltestelle für den Postbus. Die stille weiße Welt bleibt hinter uns zurück.
Weitere Informationen unter
MySwitzerland.com
Die beschriebene Wanderung kann als Paket mit Führerin, Unterkünften und Gepäcktransfer über Graubünden Ferien gebucht werden. Weitere Informationen unter www.graubuenden.ch und www.engadin.com
Die Recherche wurde unterstützt von Graubünden Ferien und von Tourismus Scuol Engadin Samnaun Val Müstair.