Harte Bandagen bei der Gemüseernte
Doku beleuchtet Arbeitsbedingungen von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft an einem Beispiel aus Oberschwaben
- Die Arte-Dokumentation „Die Unsichtbaren“über osteuropäische Arbeiterinnen in Westeuropa schlägt aktuell Wellen im Landkreis Biberach. Die tschechische Journalistin Saša Uhlová hat verdeckt im Niedriglohnsektor recherchiert: als Zimmermädchen in Irland, in der Altenpflege in Frankreich und in der Landarbeit in Süddeutschland. Auf einem Gemüsehof bei Laupheim arbeitete Uhlová einen Monat als Landarbeiterin und dokumentierte unentdeckt die Arbeitsbedingungen der Frauen. Die Vorwürfe, die die Journalistin in dem Beitrag erhebt, sind drastisch. Unter anderem geht es um eine Bezahlung unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Der betroffene Landwirt Martin Botzenhard kämpft um seine Reputation.
Salat, Spargel, Erdbeeren, Äpfel – alles regional in Deutschland angebaut. Doch ohne Saisonkräfte aus Osteuropa wäre die Lebensmittelproduktion so nicht möglich. So legt diese Dokumentation schonungslos den Finger in die Wunde eines Systems: Dass manche Branchen wie eben die Landwirtschaft bei uns nur deshalb funktionieren, weil Menschen, vor allem aus Osteuropa, Arbeiten übernehmen, für die sich seit Jahren hierzulande kaum mehr jemand finden lässt. Betroffen macht die Angabe im Film, dass diese Arbeitskräfte trotz prekärer Konditionen in Deutschland bis zu dreimal so viel verdienten wie in der Heimat.
Laut Erhebungen des Statistischen Bundesamts beschäftigte die deutsche Landwirtschaft im Jahr 2020 knapp 275.000 Saisonarbeitskräfte. Saša Uhlová war einen Monat lang eine von ihnen. Unter dem Pseudonym Alexandra Tožičková lässt sie sich von einer polnischen Agentur vom 11. September 2021 an einen Monat lang als Arbeiterin nach Deutschland vermitteln – und landet auf dem Gemüsehof Botzenhard im Laupheimer Teilort Baustetten.
Mit versteckter Kamera, unauffällig verbaut in einer Brille, dokumentiert sie die tägliche Arbeit und das Leben der Saisonarbeiterinnen auf dem Hof und auf dem Feld. Sie filmt Arbeiterinnen bei der Ernte und das stundenlange Waschen, Schneiden, Portionieren und Verpacken von Gemüse in gekühlten Produktionshallen. Uhlovás Aufnahmen zeigen harte körperliche Arbeit bis an den Rand der Erschöpfung. Einmal wird bis spät in die Nacht Salat geerntet, damit ein Discounter rechtzeitig Ware bekommt. Sie dokumentiert aber auch das Leben der Frauen in den einfachen Gemeinschaftsunterkünften auf dem Hof – wie sie abends geschafft beim Bier zusammensitzen, aber auch tanzen, feiern. Es ist eine Parallelwelt, über die beim Griff nach einem Salatkopf für 99 Cent beim Discounter kaum jemand nachdenkt.
Uhlová formuliert in der TVDoku den Vorwurf der „Ausbeutung“. Auf dem Betrieb werde bis zu sieben Tage die Woche gearbeitet, teils nur mit kurzen Pausen und vor allem: meist über die Arbeitszeit von zehn Stunden pro Tag hinaus. Diese Zeiten dokumentieren die Frauen auf gesonderten Listen. Dies alles, so die Journalistin, unter dem 2021 geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 9,60 Euro. Denn auf die Hand ausbezahlt habe sie nur 6,20 Euro pro Stunde bekommen, beschreibt sie im Film. In einer kurzen Sequenz ist die Abrechnung zusammen mit Martin Botzenhards Frau Ewa zu sehen. Diese rechnet die Stunden zusammen. „In vier Wochen habe ich 1500 Euro verdient“, sagt Uhlová.
Dass sie auf dem Gemüsehof von Martin Botzenhard gelandet ist, sei Zufall gewesen, erzählt Uhlová. Die 200 Euro Vermittlungsgebühr an die Agentur werden ihr nach dem Monat vom Lohn abgezogen.
Die Arte-Produktion entstand in Zusammenarbeit mit der tschechischen Regisseurin und Journalistin Apolena Rychlíková. Mittlerweile ist die Doku allerdings nicht mehr in der Arte-Mediathek und auf YouTube abrufbar. Ihr Ansinnen sei es nicht gewesen, den Betrieb von Martin Botzenhard an die Öffentlichkeit zu zerren, versichert Saša Uhlová während eines Videocalls. Sie wolle aufzeigen, „dass dies ein systemisches Problem in ganz Deutschland ist“. Tatsächlich werden weder Namen noch Orte genannt, Einheimischen fällt es indessen leicht, den Ort des Geschehens zu identifizieren.
Die Doku sorgt seit Tagen für Aufregung im Landkreis Biberach. In sozialen Netzwerken überschlagen sich die Kommentare. Martin Botzenhard fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Als die „Schwäbische Zeitung“anklingelt, hat er erst kurz zuvor von der Fernsehdokumentation erfahren. Dass auf seinem Hof investigativ recherchiert wurde, habe er nicht gewusst.
Botzenhard ist nach eigener Aussage der mit Abstand größte Gemüsebauer in der Region. Sein Betrieb sei mehrfach zertifiziert, werde regelmäßig kontrolliert. „Ich habe nichts zu verbergen.“Dass die Arbeit hart ist und während der Hochsaison auch länger gearbeitet wird, stellt er nicht in Abrede. „Alle Stunden werden dokumentiert. Jede Minute wird erfasst und auch bezahlt“, versi
chert er. „Zehn bis zwölf Stunden kommen vor, allerdings nicht dauerhaft. Das wäre gar nicht möglich. Die Arbeit ist zu hart, das Verletzungsrisiko wäre dann viel zu hoch.“
Dass, wie im Film gezeigt, bis spät in die Nacht Salat geerntet wird, sei „ein absoluter Ausnahmefall“gewesen. „Die Erntemaschine war kaputt. Am Tag darauf habe ich die Bestellung abgesagt, weil das so nicht leistbar war.“Auch die Aussage im Film, dass während der Arbeit über Stunden keine Pausen gemacht werden dürften, sei nicht korrekt. Allerdings, in den Hallen, in denen das Gemüse verarbeitet wird, sei Essen und Trinken aus Gründen der Lebensmittelsicherheit nicht erlaubt, außerhalb dagegen sei das kein Thema.
Klar, man sei im Niedriglohnsektor, „aber der Mindestlohn wird definitiv ausgezahlt“, versichert Botzenhard mehrfach. „Es ist schwere körperliche Arbeit. Ich ziehe meinen Hut vor den Mitarbeitern.“Für Saisonkräfte bezahle er zudem die in der Landund Forstwirtschaft gültige Pauschalbesteuerung von fünf Prozent und zusätzlich eine private Kranken- und Unfallversicherung, erklärt der Landwirt. Zwei Drittel seiner Mitarbeiter beschäftige er sozialversicherungspf lichtig. Aktuell seien 30 Arbeitskräfte auf dem Hof, in der Hochsaison seien es maximal 50.
Die in der Doku genannten 6,20 Euro Stundenlohn hat Botzenhard noch vor wenigen Tagen gegenüber der SZ als „absoluten Quatsch“bezeichnet. „Da kommt keiner zum Arbeiten.“Zum Beweis schickte er Kopien des Arbeitsvertrags und von Abrechnungen von „Alexandra Tožičková“. Auf beiden ist der damalige gesetzliche Mindestlohn von 9,60 Euro hinterlegt. Laut dieser Abrechnung hat Tožičková im September 166 Stunden gearbeitet, im Oktober waren es 68 Stunden. Sowohl die Abrechnung als auch ein handschriftlicher Stundenzettel für den Oktober sind von ihr unterschrieben.
Botzenhard führt über den Hof. Immer wieder klingelt das Telefon. Die Anrufer melden sich auf einen Radiobeitrag hin. „Ich werde grad ruiniert“, sagt Botzenhard. Er zeigt die Unterkünfte und Sozialräume. Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsduschen – alles sehr einfach, aber sauber. Auffallend sind die vielen Kühlschränke. „Das ist doch wichtig, das ist wenigstens ein bisschen Privatsphäre“, sagt er. Genauso wichtig sei für ihn, dass sämtliche Schriftstücke in Deutsch und Polnisch verfasst sind. „Es soll keine Sprachbarrieren geben, das gehört sich so.“Seine Frau Ewa ist ebenfalls Polin, auch sie kam einst als Erntehelferin auf den Hof. „Viele der Leute kommen seit fünf oder auch seit zehn Jahren. Ich bin auf Geburtstage und auch auf Hochzeiten eingeladen“, sagt er. „Wäre ich das, wenn ich so ein Sklaventreiber wäre?“
Tags darauf berichtet Botzenhard, dass er eine Kontrolle des Gewerbeaufsichtsamts auf dem Hof hatte. Die Behörde habe sämtliche Unterlagen kontrolliert. „Bis auf kleinere Mängel hat es keine Beanstandungen gegeben.“Das Landratsamt Biberach bestätigt die Prüfung. Der Betrieb sei bisher unauffällig gewesen, sagt Pressesprecher Philipp Friedel.
„Die Gewerbeaufsicht hat Mängel festgestellt. Diese werden nun detaillierter geprüft.“
Je tiefer man recherchiert, desto klarer wird: Es ist kein Schwarz-Weiß, sondern ein GrauBereich in vielen Schattierungen. Das wird auch im Videocall mit Saša Uhlová deutlich. Etliche der Frauen hätten ihr berichtet, dass es auf anderen Höfen weit schlimmer gewesen sei als in Baustetten. Sie bestätigt auch, dass jede Stunde bezahlt worden sei, jedoch sei die Abrechnung schwierig nachzuvollziehen gewesen. Zur Bekräftigung lässt sie der Redaktion Fotos der verschiedenen Arbeitszeitlisten zukommen, die sie damals gemacht hatte.
Und sie bleibt hartnäckig, was die 6,20 Euro betrifft. Zum Beweis schickt sie der „Schwäbischen Zeitung“eine längere Videosequenz, in der Ewa Botzenhard mit ihr in polnischer Sprache die Abrechnung fertig macht. Eine unabhängige Muttersprachlerin hat der „Schwäbischen Zeitung“nach Durchsicht des Materials bestätigt, dass in dem Gespräch 1271 Euro, also 205 Stunden mit 6,20 Euro pro Stunde abgerechnet wurden. Diese Stundenzahl weist jedoch eine deutliche Diskrepanz zu den laut Uhlová aufgeschriebenen Stunden auf.
Als unsere Zeitung Martin Botzenhard damit konfrontiert, hat er dafür eine andere Erklärung: Von den 9,60 Euro Mindestlohn habe seine Frau bereits Agenturkosten, Vorschuss, Miete sowie Kosten für Getränke und WLAN abgezogen. Daraus errechne sich der Stundenlohn von 6,20 Euro. „Die Mitarbeiter interessiert nur der Nettolohn.“Detaillierter könne sich seine Frau nach fast drei Jahren nicht mehr erinnern.
Das Hauptzollamt Ulm hat Ermittlungen aufgenommen. „Es gibt den Fernsehfilm und vermutlich ist etwas nicht in Ordnung“, erklärt Pressesprecher Hagen Kohlmann. Einzelheiten zu laufenden Verfahren kommentiere man nicht. „Ein Film ist ein Film. Der Zoll macht seine Arbeit.“