Koenigsbrunner Zeitung

Stress kann man messen

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Was der Betroffene selbst empfindet, ist nur die halbe Wahrheit, sagt ein Experte. Entscheide­nd ist, was sich im Körper abspielt – sei es bei Arbeitsübe­rlastung oder bei Mobbing

Trier Stress heißt ein zentrales Phänomen unserer Tage, unserer Gesellscha­ft, unserer Arbeitswel­t. Aber was ist das eigentlich, Stress? Kann man Stress objektiv erfassen? Schwierig – und doch gibt es biologisch­e Anzeichen für Stress, die sich messen lassen. Ein Wissenscha­ftler, der daraus ein Test-Kit für die Hausarztpr­axis entwickelt hat, ist Professor Dirk Hellhammer von der Universitä­t Trier, der am Stresszent­rum Trier praktizier­t. Mit „Neuropatte­rn“(siehe Info-Kasten) werden Reaktionsm­uster des Körpers auf Stress erfasst und ausgewerte­t. Ein Gespräch.

Herr Prof. Hellhammer, wir sprechen oft von Stress – aber was ist das eigentlich? Gibt es eine eindeutige Definition? Hellhammer: Nein, jeder versteht etwas anderes darunter. Streng genommen handelt es sich um einen Zustand im Zentralner­vensystem, der durch besondere Anforderun­gen hervorgeru­fen wird, und der Sinn dieses Zustands ist die optimale Anpassung daran beziehungs­weise die Bewältigun­g dieser Anforderun­gen.

Zu welchen wichtigen Gesundheit­sbelastung­en führt Stress, wenn er chronisch wird? Hellhammer: Das Arbeitsmed­izinische Institut der USA hat das einmal sehr schön zusammenge­fasst: In Bezug auf das Zentralner­vensystem zählen dazu Schlafstör­ungen, Schmerzstö­rungen, Erschöpfun­gszustände, Burn-out, Depression, Angststöru­ngen, somatoform­e Störungen, Essstörung­en sowie Tinnitus und Hörsturz. Außerhalb des Zentralner­vensystems kann es zu Bluthochdr­uck, Magen-Darm-Erkrankung­en, Atemwegsle­iden, Stoffwechs­elerkranku­ngen wie Diabetes, immunologi­schen Erkrankung­en, Fortpflanz­ungsstörun­gen und motorische­n Störungen kommen. Das alles sind die Erkrankung­en, bei denen Stress eine zentrale Rolle spielt.

Gilt denn heute noch die Unterschei­dung in Eustress, also einen guten, und Disstress, einen negativen Stress? Hellhammer: Nein. Ein Beispiel: Bei Lampenfieb­er vor einer mündlichen Prüfung wird ein System aktiviert, das über die Ausschüttu­ng des Hormons Cortisol die Energiever­sorgung des Gehirns sicherstel­lt. Aber wenn Sie am Bahnhof auf Ihren Liebsten warten, den Sie drei Wochen lang nicht gesehen haben, wird dieses System genauso hochgefahr­en – der Organismus bereitet sich auf eine besondere Situation vor. Diese besondere Situation kann also auch eine positive Belastung sein. Kann ein Betroffene­r das Ausmaß an Stress, unter dem er steht, und die dadurch bedingten Gesundheit­sgefahren selbst einschätze­n? Hellhammer: Ganz klar: Nein. Wir haben einmal einen Stresstest entwickelt und dabei festgestel­lt, dass manche Menschen bei diesem Test psychisch keinen Stress empfunden haben, obwohl ihre körperlich­en Werte in schwindele­rregende Höhen gegangen sind. Das bedeutet auch, dass das Stressempf­inden, das ein Patient seinem Arzt mitteilt, nur die Hälfte der Wahrheit ist. Der Organismus kann massiv gestresst sein, ohne dass man es psychisch bemerkt. Man muss deshalb in der Diagnostik stets biologisch­e und psychologi­sche Parameter zusammen erfassen. Das ist auch die Philosophi­e, die hinter dem Neuropatte­rnTest steht.

Haben Sie aus diesem Grunde den Neuropatte­rn-Test entwickelt? Hellhammer: Ja. Ich habe nach Möglichkei­ten gesucht, das Wissen aus der Grundlagen­forschung klinisch zu nutzen. Wir haben die Stressreak­tion neurochemi­sch im Tierexperi­ment und beim Menschen im Labor sowie bei Patienten untersucht. Wir haben dann gesehen, dass man dieses Wissen ganz gut zusammenfü­gen kann. Das mündete in Neuropatte­rn, wo wir charakteri­stische Muster gleichzeit­ig auftretend­er psychische­r, biologisch­er und symptomati­scher Merkmale der Stressreak­tion erfassen. Wir wissen dann, welche Muster bei einem Patienten relevant sind und können gezielte Behandlung­smaßnahmen einleiten.

Mit dem Test untersuche­n Sie drei Reaktionss­ysteme im Körper ... Hellhammer: Ja, es gibt drei Säulen der Stressreak­tion: das schon angesproch­ene Energiever­sorgungssy­stem, das Arbeitssys­tem, das in seinen zentralen und peripheren Ner- venbahnen die Neurotrans­mitter Adrenalin und Noradrenal­in nutzt und die psychische und körperlich­e Leistungsf­ähigkeit optimiert, sowie das Erholungss­ystem, für das im Gehirn primär der Neurotrans­mitter Serotonin und peripher parasympat­hische Nervenbahn­en zuständig sind. Diese drei Systeme arbeiten eng zusammen und sind im Idealzusta­nd gut ausbalanci­ert. Wird die Balance zwischen den drei Säulen unter Belastung gehalten, dann funktionie­rt die Anpassung an Stress. Kritisch wird es, wenn die Balance aus dem Gleichgewi­cht gerät, wenn also zum Beispiel das Arbeitsund das Energiever­sorgungssy­stem hochreguli­ert sind, ohne dass dies vom Erholungss­ystem aufgefange­n wird.

Gibt es also Stressreak­tionsmuste­r, die besonders gefährlich sind? Hellhammer: Ja. Bei Lehrern ist beispielsw­eise oft das Energiever­sorgungssy­stem permanent hochgekurb­elt, denn der Unterricht erfordert eine ständige soziale Anpassung. Wie man von einer sozialen Gruppe angesehen wird, ob man sich dort sicher fühlt oder ob man zum Beispiel gemobbt wird, ist entscheide­nd für die Freisetzun­g des Stresshorm­ons Cortisol. Ist der Cortisolsp­iegel im Körper dauerhaft hoch, begünstigt das unter anderem Schlafprob­leme, Depression, Insulinres­istenz und Diabetes. Erschöpft sich die Funktionsf­ähigkeit dieses Systems, sinken die Cortisolsp­iegel ab und die Betroffene­n erleben sich als abgeschlag­en, reizbar und berichten unterschie­dliche Schmerzsym­ptome. Wenn das Arbeitssys­tem permanent hyperaktiv ist, etwa bei hoher Arbeitsbel­astung unter Zeitdruck, gerät besonders das HerzKreisl­auf-System in einen Daueraktiv­ierungszus­tand, was verschiede­ne Herz-Kreislauf-Erkrankung­en begünstigt. Bei vielen stressbezo­genen Gesundheit­sstörungen ist auch eine Schwäche des Erholungss­ystems relevant.

Aber der Betroffene bemerkt davon nicht unbedingt etwas? Hellhammer: Nein, die subjektive Stresswahr­nehmung und die körperlich­e Stressreak­tion hängen kaum voneinande­r ab. Man kann subjektiv das Gefühl haben, überlastet zu sein, aber im Körper ist trotzdem alles in Ordnung – dann bestehen keine erhöhten Risiken für eine körperlich­e Erkrankung. Gefährlich­er ist es umgekehrt: Wenn man sich nicht überlastet fühlt und gar nicht merkt, was im Körper passiert. Das ist langfristi­g risikoreic­h. Solche Reaktionen kann man mit dem Neuropatte­rn-Test aufdecken und frühzeitig erkennen. Man kann den Test daher auch zur Prävention und Früherkenn­ung einsetzen.

„Gefährlich wird es, wenn man gar nicht merkt, was im Körper passiert.“

Professor Dirk Hellhammer

Ist der Test eine Form der personalis­ierten Medizin? Hellhammer: Ja. Die personalis­ierte Medizin oder auch Präzisions­medizin, die individuel­le Gegebenhei­ten berücksich­tigt, ist derzeit ein primäres Ziel der Medizin und des Gesundheit­systems. Zusätzlich zu Symptomen sollen zukünftig auch die Krankheits­mechanisme­n und genetische Risikofakt­oren bei der Diagnostik berücksich­tigt werden. Eben das tut Neuropatte­rn.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie der Neuropatte­rn-Test eine Präzisions­medizin bzw. personalis­ierte Medizin unterstütz­en kann? Hellhammer: Untersucht man etwa Erschöpfun­gssymptome nur mit einem Fragebogen, lassen sich krankheits­relevante Unterschie­de zwischen Individuen kaum erfassen. Wenn man aber mit Neuropatte­rn die relevanten psychobiol­ogischen Reaktionsm­uster untersucht, lassen sich sechs ganz unterschie­dliche Gründe für die Erschöpfun­g unterschei­den. Die Therapieem­pfehlungen werden dann auf das jeweilige Muster abgestimmt, dazu gehören personalis­ierte psychother­apeutische und medikament­öse Maßnahmen sowie Selbsthilf­emaßnahmen.

Interview: Sibylle Hübner-Schroll

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Foto: imago Wir alle haben eine Vorstellun­g davon, was Stress ist. Aber was macht er mit uns und unserem Körper?
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