Erdogan putscht zurück – und der Westen schaut dabei zu
Angela Merkel braucht die Türkei, um den Andrang der Flüchtlinge zu bremsen. Droht sie dem leicht erregbaren Präsidenten deshalb nicht mit Sanktionen?
Angela Merkel hat eine rote Linie gezogen – allerdings an der falschen Stelle. Ihre Geduld mit Recep Tayyip Erdogan endet erst, wenn der türkische Präsident tatsächlich die Wiedereinführung der Todesstrafe betreiben sollte. Erst dann will sie die Verhandlungen über einen EU-Beitritt des Landes abbrechen. Bis dahin, heißt das im Umkehrschluss, hat Erdogan mehr oder weniger Narrenfreiheit. Er kann Richter absetzen, Abgeordneten die Immunität entziehen, Oppositionelle nach Gutdünken verhaften lassen und ganze Zeitungsredaktionen auswechseln, wenn sie zu kritisch über ihn berichten – Deutschland schaut zu.
In die allgemeine Empörung über den Putsch nach dem Putsch haben zwar auch Angela Merkel und ihre Getreuen eingestimmt. Diese demonstrative Empörung aber hat etwas Reflexhaftes und Wohlfeiles, solange sie für Erdogan keine Folgen hat. Muss er damit rechnen, dass Europa die versprochene Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger zurücknimmt? Droht die Nato ihm damit, ihre Soldaten aus dem Stützpunkt Incirlik abzuziehen oder ihn gar aus dem Bündnis zu werfen? Hier wie dort hätte das Wort der Kanzlerin Gewicht. Hier wie dort aber nutzt sie ihren Einfluss nicht, um Druck auf den immer autokratischer agierenden Präsidenten auszuüben. So kann Erdogan sein Land ungehindert zu seinem ganz persönlichen Emirat umbauen, einem türkischen Katar.
Dass die Türkei in der Flüchtlingskrise gebraucht wird und für die Nato an einer gefährlichen Flanke enorme strategische Bedeutung hat, entschuldigt nicht alles. Erdogan ist auch deshalb so mächtig geworden, weil seine Partner im Westen ihn lange haben gewähren lassen – allen voran Deutschland und seine Kanzlerin. Weil er Witze auf seine Kosten nicht erträgt, macht sie den Weg frei für ein Verfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann. Wenn der Bundestag die Massaker an den Armeniern als Völkermord verurteilt, hält sie eine Rede bei einem Bildungskongress. Und wenn die türkische Regierung deutschen Abgeordneten einen Besuch bei den Soldaten der Bundeswehr in Incirlik verweigert, beschwert die Kanzlerin sich zwar pflichtgemäß bei Erdogan – genauso pflichtschuldig aber nimmt sie es hin, dass er sie abblitzen lässt. Den Mut, die Soldaten so lange nach Hause zu holen, bis er wieder kooperiert, hatte sie nicht. Dabei schützt ihr Einsatz ja, nicht zuletzt, auch die Türkei.
Die Flüchtlingskrise hat das ohnehin komplizierte deutsch-türkische Verhältnis noch zusätzlich verkompliziert. Um den Andrang zu bremsen, hat Angela Merkel ganz auf die Karte Erdogan gesetzt und sich damit in eine gefährliche Abhängigkeit begeben. Leicht erregbar, wie er ist, kann der türkische Präsident von heute auf morgen die Schleusen wieder öffnen. Konfliktscheu, wie sie ist, will sie genau das vermeiden. So ist aus einer strategischen Partnerschaft eine strategische Gefangenschaft geworden, eine Art Geiselhaft, in die Erdogan Deutschland genommen hat und aus der die Bundesregierung sich entweder nicht befreien kann oder nicht befreien will. Selbst jetzt, da er den gescheiterten Putsch nutzt, um seine Gegner in Justiz, Polizei und Militär zu Tausenden zu entlassen oder zu verhaften, hat er offenbar keine Sanktionen zu befürchten. Das Flüchtlingsabkommen, findet die Kanzlerin, müsse man getrennt von den Ereignissen vom Wochenende betrachten …
Erdogan, darf man annehmen, sieht das anders. Bei ihm dient das eine wie das andere nur einem Ziel, nämlich seine Macht zu festigen. So gesehen ist die Kanzlerin, wenn auch unfreiwillig, seine vielleicht wichtigste Verbündete. Jeder geht so weit, heißt es, wie der andere ihn lässt – und sie lässt ihn schon viel zu lange viel zu weit gehen.
Warum zieht sie die Bundeswehr nicht aus Incirlik ab?