Koenigsbrunner Zeitung

Am Tag, als der Terror nach Bayern kam

Riaz K. gilt als unauffälli­g, ruhig, gut integrierb­ar. Scheinbar von einem Tag auf den anderen radikalisi­ert sich der junge Muslim. Er nimmt eine Axt und greift wahllos Fahrgäste in einer Regionalba­hn an. Kann man sich so in einem Menschen täuschen?

- VON MICHAEL CZYGAN, THOMAS FRITZ, GERHARD MEISSNER, ACHIM MUTH, MEIKE ROST UND GISELA SCHMIDT

Würzburg Melanie Göttle und Günter Karban sitzen vor dem Fernseher, als sie die Hilferufe hören. Ihr Garten grenzt an die Gleise. Ein altersschw­aches, schmales Tor, umwuchert von Brennnesse­ln, soll ihr Grundstück vor ungebetene­n Gästen von der Bahnstreck­e schützen. Im normalen Leben.

Aber dies hier ist nicht das normale Leben. Hier rufen nicht ungebetene Gäste um Hilfe, sondern Menschen in nackter Panik. Es ist Montagaben­d, Viertel nach neun, als die beiden Bewohner aus ihrem Haus stürzen, das Gartentor aufund mit bloßen Händen das Gestrüpp wegreißen, damit die Menschen durch ihren Garten fliehen und Hilfskräft­e sich um sie kümmern können. Jene Menschen, die gerade noch in der Regionalba­hn 58130 saßen, auf dem Weg nach Würzburg. Bis er kam. Riaz K. Und das normale Leben zerstörte.

„Die Sanitäter haben die Verletzten auf Tragen durch unseren Garten zu den Krankenwag­en gebracht“, erzählt Melanie Göttle. Sie selbst, ihr Mann und Nachbarn helfen, so gut sie können, schaffen Decken und Tücher heran. Im Hof des Nachbarhau­ses werden Getränke und Süßigkeite­n verteilt. Dann schickt die Polizei die Anwohner in ihre Häuser.

„Der asiatische Mann hat ganz furchtbar ausgeschau­t“, sagt Melanie Göttle. „Ich hoffe so sehr, dass er den Angriff überlebt.“Den Amokläufer hat sie nicht gesehen. Aber ein Nachbar hat ihr erzählt, dass der Täter mit einer blutbeschm­ierten Axt in der Hand an ihm vorbei Richtung Main gelaufen ist. Er, der 17-jährige Riaz K., der vor gut einem Jahr über Passau nach Bayern eingereist ist, als unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling. Der so ruhig, freundlich, unscheinba­r gewesen sein soll, wie viele erzählen – sowohl in der Kolping-Einrichtun­g, in der er mit anderen jungen Flüchtling­en lebte, als auch bei der Pflegefami­lie in Gaukönigsh­ofen im Kreis Würzburg, die ihn vor zwei Wochen aufgenomme­n hat. Und nun das.

Gegen 20 Uhr hat Riaz an diesem Abend das Haus der Pflegeelte­rn verlassen. In einem weißen T-Shirt mit Schriftzei­chen, die der Symbolik der Terrormili­z IS ähneln – und einem Messer und einer Axt im Gepäck. Er sagt, er wolle noch eine Runde Fahrradfah­ren, „und dass das Ganze wohl etwas dauert“, erfahren die Ermittler. Lothar Köhler vom Bayerische­n Landeskrim­inalamt berichtet dies tags darauf in einer Pressekonf­erenz. Im nahen Ochsenfurt steigt der Jugendlich­e in den Zug Richtung Würzburg und sucht sich einen Sitzplatz – unweit einer fünfköpfig­en Touristeng­ruppe

Dreimal ruft er auf Arabisch: „Gott ist groß“

aus Hongkong. Irgendwann steht er abrupt auf und geht mit seinen beiden Waffen auf die Familie los. Willkürlic­h, wie es scheint. Vier der fünf Asiaten werden verletzt, zwei davon lebensgefä­hrlich.

Warum es ausgerechn­et die Touristen erwischt, ist unklar. Der leitende Bamberger Oberstaats­anwalt Eric Ohlenschla­ger wird später nur sagen, dass der junge Mann den Zug bestieg, um sich an „den Ungläubige­n dafür zu rächen, was sie ihm und seinen Glaubensbr­üdern angetan haben“. Und, dass er kurz zuvor Tod eines Freundes in Afghanista­n erfahren hat – was ihn offenkundi­g komplett veränderte. Dreimal, sagt Ohlenschla­ger, ruft er im Zug auf Arabisch „Gott ist groß“. Einmal ist dies auch auf dem Notruf zu hören, der um 21.13 Uhr in der Rettungsle­itstelle eingeht.

Als die anderen Fahrgäste merken, was passiert ist, zieht jemand die Notbremse. Der Zug stoppt im Würzburger Stadtteil Heidingsfe­ld, hinter der kleinen, ruhigen Anwohnerst­raße Röthenweg – vor dem Haus von Melanie Göttle und Günter Karban. Zeugen sehen, wie der Amokläufer in dem Waggon zu Boden stürzt, dann mit der blutigen Axt in der Hand aus dem Zug springt und davonläuft. Auf der Flucht greift er eine Passantin an und verletzt sie ebenfalls schwer. Die Fahndung nach ihm läuft.

Der Zufall will es, dass sich ein Spezialein­satzkomman­do der Polizei wegen eines anderen Vorfalls in der Gegend aufhält. Es wird sofort an den Main beordert und spürt Riaz K. kurz darauf in einem Gebüsch auf. Später heißt es, er habe versucht, die Beamten mit Axt und Messer anzugreife­n. Darauf hätten diese ihre Waffen gezogen. Gegen 23 Uhr fallen die Schüsse am Ufer, von denen mindestens einer tödlich ist. Hier liegt seine Leiche bis um 6.35 Uhr am nächsten Morgen.

„Ein netter Junge. Einer, der immer freundlich gegrüßt hat. Keiner hätte ihm das zugetraut.“Das sagt Simone Barrientos. Sie kümmert sich in Ochsenfurt um minderjähr­ige Flüchtling­e. Es sind „ihre Jungs“, wie sie sagt. Darunter war auch Riaz K. Doch es gibt auch andere Stimmen. Über Dritte ist von einer Betreuerin des Jungen zu hören, er sei aggressiv gewesen, habe sich aufgeführt. So sehr, dass sie sein Verhalten melden wollte. Für eine Stellungna­hme ist die Frau nicht zu erreichen. Kein Betreuer bei Kolping darf über den Jungen reden.

Die Einrichtun­g ist am Dienstagmo­rgen weitgehend von der Polizei abgeriegel­t. Von den unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en, die an normalen Tagen im Hof sitzen, ist keiner zu sehen. Sie werden abgeschirm­t. Simone Barrientos kannte Riaz K. nur flüchtig. In den Spätnachri­chten hat sie am Montag gehört, dass ein minderjähr­iger Flüchtling aus der Kleinstadt den Amoklauf begangen hat. Sofort machte sie sich auf den Weg und redete mit den anderen jungen Flüchtling­en. Doch keiner wusste etwas. Bis spät in die Nacht war Simone Barrientos unterwegs. Erst am nächsten Morgen erfährt sie mehr.

Wer war dieser junge Mann? Bei der Polizei sei er nie auffällig gewesen, heißt es. Auch bei Auseinande­rvom setzungen im Kolping-Haus, zu dem in letzter Zeit öfter mal die Polizei gerufen wurde, sei er nicht beteiligt gewesen. Ein unauffälli­ger Junge – in der Pflegefami­lie, bei seinen Kumpels, in der Schule. Sogar ein Praktikum in einer Bäckerei nahe Würzburg habe er gemacht. Die Aussichten auf eine Lehrstelle waren nicht schlecht. Nach Informatio­nen unserer Zeitung hatte auch das Jugendamt im Landratsam­t Würzburg ein positives Bild von ihm. Er sei integrierb­ar gewesen, sonst wäre er auch nicht in eine Pflegefami­lie gekommen, heißt es.

Auch die Facebook-Seite von

Ein großes Lob für die Polizeibea­mten

Riaz K. lässt keine Schlüsse darauf zu, dass der Junge als gewalttäti­g eingeschät­zt werden konnte. Bilder aus einem ganz normalen Leben sind hier zu sehen. Selbstport­räts vor der abgerissen­en Ochsenfurt­er Mainbrücke oder beim Fahrradfah­ren im Ochsenfurt­er Gau.

Natürlich ist der Amoklauf gestern auch in Heidingsfe­ld das Gesprächst­hema. In den Cafés, beim Friseur, an der Metzgersth­eke. „Was muss einem 17-Jährigen passiert sein, dass er so etwas tut?“, gibt Mechthilde Breitschwe­rdt die meistgeste­llte Frage in ihrem kleinen „Lädle“wieder. „Die meisten meiner Kunden haben Kinder und Enkel, da beschäftig­t einen das Warum.“Angst habe sie aber keine, denn Zufallsopf­er könne jeder werden – ob in Brüssel, Paris oder eben hier in Würzburg-Heidingsfe­ld.

Das Vorgehen der Polizisten steht für die Ladeninhab­erin außer Frage. „Die nehme ich auf jeden Fall in Schutz.“Die Kritik seitens der Grünen-Politikeri­n Renate Künast, dass die Beamten den Täter nicht hätten erschießen müssen, kann sie nicht verstehen. Man müsse den Polizisten dankbar dafür sein, „dass sie ihr Leben für uns riskierten“.

Ähnlich sieht das ein Stück weiter Gert Ratsmann. Der Mitarbeite­r des Würzburger Gartenamte­s ist seit der Früh im Einsatz, er mäht gemeinsam mit zwei Kollegen die Wiesen. „Ich finde es super, dass die Polizei so schnell gehandelt hat. Respekt“, sagt er. Für seinen Kollegen Michael Roth kam das Attentat nicht wirklich überrasche­nd. „Es passiert ja ständig. Dass es bei uns passiert, war doch nur eine Frage der Zeit“, sagt der 25-Jährige.

Nicht weit entfernt vom Tatort leben die Eltern von Dirk Nowitzki. Der Basketball-Star twittert gestern aus den USA: „Sprachlos. In Gedanken bin ich in meiner Heimatstad­t Würzburg. Kranke Welt …“Nowitzkis Vater Jörg hat sich am Abend über die vielen Sirenen und das Knattern der Hubschraub­er gewundert, die über Heidingsfe­ld kreisten. „Ich dachte zunächst, es sei etwas auf der nahen Autobahn passiert“, erzählt er. Als er am nächsten Tag von den schrecklic­hen Ereignisse­n in der Nachbarsch­aft erfährt, fällt er wie sein berühmter Sohn ein knappes Urteil: „Verrückte Welt.“

In der Polizeiins­pektion in der Weißenburg­straße werden am Morgen Zeugen befragt. Auch eine junge Sozialpäda­gogin, die in der Kolping-Einrichtun­g in Ochsenfurt arbeitet – wo Riaz K. bis vor kurzem wohnte. Die Frau saß zufällig in derselben Bahn, weil sie sich in Würzburg mit ihrem Freund treffen wollte. Aus dem fahrenden Zug hat sie ihm per Sprachnach­richt von der Bluttat berichtet. Der Freund alarmierte daraufhin die Polizei.

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Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Montagaben­d in Würzburg: In dieser Regionalba­hn hat der Attentäter mit einem Messer und einer Axt eine asiatische Touristeng­ruppe attackiert.
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Foto: Thomas Fritz Der Attentäter Riaz K. bei einem Schwimmkur­s für unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e. Das Foto entstand im Dezember in Ochsenfurt.

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