Die Wandlung des L. Bouhlel
Terror Der Attentäter von Nizza scherte sich nicht um religiöse Vorschriften. Im Gegenteil. Doch dann änderte er sich…
Nizza Der Attentäter von Nizza war lange Zeit nicht religiös, aß Schweinefleisch, trank Alkohol, nahm Drogen und führte ein ausschweifendes Sexualleben. Mohamed Lahouaiej Bouhlel entspricht so gar nicht gängigen Klischees über islamistische Gewalttäter. Nach dem Anschlag mit 84 Toten – darunter eine Lehrerin und zwei Schülerinnen aus Berlin, wie die Bundesregierung jetzt offiziell bestätigte – werden täglich neue Einzelheiten über den Angreifer bekannt, der im Kugelhagel der Polizei starb.
Der 31-Jährige galt zwar als gewalttätig gegenüber seiner Frau und seinen Kindern und interessierte sich zumindest kurz vor der Tat für den Dschihadismus. Er war aber nach bisherigen Erkenntnissen kein Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), obwohl der IS das Blutbad in der Ferienmetropole für sich reklamierte. In Frankreich bleiben nach der Attacke vom 14. Juli neben Trauer auch Wut und Angst. Denn es gibt die Sorge, dass der „Terrorismus von nebenan“neue Opfer fordern könnte.
„Es handelt sich um eine neue Variante bei den Terrortaten, die unser Gefühl der Unsicherheit verstärkt“, resümiert der Radikalisierungsexperte Fehti Benslama in der Tageszeitung Le Monde vom Dienstag. Ein gemieteter Lastwagen, ein den Geheimdiensten unbekannter Täter, ein riesiges Volksfest – bisherige Muster der Überwachung seien außer Kraft gesetzt, meint der Pariser Universitätslehrer für Psychopathologie. Extreme Gegenreaktionen könnten Grundlagen des Rechtsstaates und den Zusammenhalt des Staates aushebeln, warnt er.
Die Ermittler haben Hinweise, dass sich der Lieferwagenfahrer erst in jüngster Zeit radikalisierte. Der Angreifer ließ sich einen Bart wachsen und wies auf dessen religiöse Bedeutung hin, wie der Anti-TerrorStaatsanwalt François Molins berichtete. Allerdings habe er sich schon vor Monaten EnthauptungsVideos angeschaut. Als ihn ein Bekannter darauf ansprach, habe er geantwortet: „Ich bin daran gewöhnt.“In den Tagen vor dem Anschlag recherchierte Bouhlel fast täglich im Internet und suchte beispielsweise nach Videos religiöser Gesänge, die Terrororganisationen zur Propaganda einsetzen. Im Fotoarchiv des Computers waren Bilder von Leichen gespeichert.
Die Ermittler stellen ernüchtert fest, dass ein Attentäter nicht mehr zur Kriegsausbildung nach Syrien fahren und danach von einer Terrororganisation präzise beauftragt werden muss, um einen Anschlag zu verüben und unschuldige Menschen
Die Radikalisierten schlagen ohne Auftrag los
in den Tod zu reißen. „Die Radikalisierung kann umso schneller erfolgen, wenn sie sich an verwirrte Personen richtet oder an Menschen, die von extremer Gewalt fasziniert sind“, meint Molins.
Seine Einsichten könnten auch für Deutschland von Belang sein. Auch bei der Axt- und Messerattacke eines jungen Afghanen in einem Regionalzug bei Würzburg gibt es den Verdacht der Selbstradikalisierung. Der Psychoanalytiker Benslama weist darauf hin, dass terroristische Gewalttäter bekannt und anerkannt werden wollen. Sie kennzeichneten ihre Zerstörungen, um rasch identifiziert zu werden. „Deshalb kann man sagen, dass die Kommunikation zur Fortsetzung des Terrors mit anderen Mitteln wird“, sagte der Experte Le Monde.
Christian Böhmer, dpa