Der Bart ist weg
Bei allem, was uns zur neuen Bundesliga-Saison neben Markus Hörwick, Matthias Sammer und dem VfB Stuttgart fehlen wird, wiegt der Verlust von Marco Sailer am schwersten. Das beginnt schon damit, dass der Name keinen besonders großen Wiedererkennungswert besitzt. Erst recht nicht jenseits von Darmstadt. Ältere Sport-Semester mögen bei Sailer „Toni“ausrufen und Österreichs Skilegende von den Toten auferstehen lassen. Aber wenn es einen gibt, der äußerlich die größtmögliche Distanz zum smarten Frauenliebling Toni Sailer herzustellen vermag, dann ist es Marco Sailer.
Damit wären wir beim Äußerlichen, ohne dass über Marco Sailer nicht zu reden ist. In einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der Fußball eine Vorreiterrolle auf dem Feld der Individualisierung an Haut und Haaren einnimmt – mit dem Ergebnis, dass am Ende doch wieder alle gleich aussehen –, hat Sailer ein eigenes Gesicht entwickelt. Mag davon auch nicht viel zu sehen gewesen sein, der Gesamtentwurf ist sympathisch. Abseits von Sterne-Coiffeuren atmete der Sailer-Bart den struppigen Duft von Freiheit und Abenteuer wie ihn Schweizer Alpöhis verströmen. Dass sich hinter den wildesten Bärten oft die empfindsamsten Männer verbergen, ist bekannt. Auch der Darmstädter Rübezahl kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Erst recht keiner Kuh, weshalb er vegan lebt.
Sailer hat dem Wahren, Guten und Schönen, für das der Aufsteiger aus Darmstadt stand, das Bärtige gegeben. Vom Bärtigen wiederum bekam der Klub Hingabe und Leidenschaft zurück. Wenn er nur den Ball so liebevoll handhaben könnte wie Kühe oder Schweine.
So aber findet die Geschichte nun ihr ökonomisches Ende. Mögen Fußball-Romantiker den SV Darmstadt noch immer als „Die Lilien“rufen, an seinen Publikumsliebling setzte der Klub kühl die Schere an. Für den längsten Bart der Bundesliga ist kein Platz mehr. Sailer weinte bittere Tränen, wie es sich für einen wilden Kerl mit einem weichen Herzen gehört, und ließ sich von seiner Frau trösten. Sein Bart wächst zur neuen Saison in Nordhausen beim viertklassigen FSV Wacker.