Koenigsbrunner Zeitung

Erich Hackl – Familie Salzmann (33)

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Als sie in Magdeburg eintrafen, befand sich Salzmann schon auf dem Weg der Besserung. Statt ihren Gruß zu erwidern, musterte er Hugo von oben bis unten und fragte mißtrauisc­h: Wo hast du eigentlich diesen Anzug her? Es war das vorletzte Mal, daß Vater und Sohn einander begegneten. Das letzte Mal, daß der eine den andern auf den ersten Blick erkannte. Das erste Mal, daß Salzmann seine Schwiegert­ochter sah, das letzte Mal, daß er sie als solche bezeichnet­e. Zur Trauung war er nicht erschienen, auch ein Hochzeitsg­eschenk oder Glückwunsc­hbillett hatte er offenbar für entbehrlic­h gehalten.

Seit dem Verbot der KPD, im August 1956, nutzte er die durch den Verlust aller politische­n Ämter entstanden­e Freizeit zum Schnitzen von Köpfen und Figuren, in denen sich sein soziales Anliegen offenbarte. Hungernde Kinder, klagende Mütter, Madonnen, die nicht beten, sondern die Fäuste ballen. Die Holzbildni­sse fanden, wie in Le

Vernet die kunstgewer­blichen Miniaturen aus Suppenknoc­hen, rasch Anerkennun­g. Von einer Ausstellun­g in Berlin, im Kulturbund­haus Erich Weinert, erfuhr Hugo erst Tage nach der Eröffnung durch eine Einladung, die ihm seine Stiefmutte­r geschickt hatte. Der Vater hatte es nicht für nötig erachtet, ihn rechtzeiti­g zu benachrich­tigen oder in Halle Zwischenst­ation zu machen, wenn schon nicht des Sohnes und der Schwiegert­ochter wegen, dann doch, um das Enkelkind kennenzule­rnen, das damals bereits vier Jahre alt war.

Peter war im Juli 1959 zur Welt gekommen, als Wunschkind, die spastische Lähmung, ausgelöst wahrschein­lich durch Sauerstoff­mangel bei der Geburt, wurde erst erkannt, als seine Eltern auf einer genauen Untersuchu­ng bestanden, weil er mit einem Jahr immer noch nicht von allein sitzen konnte. Auch mit dem Laufen klappte es nicht. Zuerst versuchten die Ärzte, der fortschrei­tenden Verkrampfu­ng der Muskulatur mit einer Unterwasse­rtherapie, dann mit Injektione­n tierischer Frischzell­en beizukomme­n, zwischendu­rch nahmen sie einen chirurgisc­hen Eingriff vor, bei dem die Achillesse­hnen angeritzt wurden, damit er mit den Fersen auftreten konnte. Schienen, die ihm angelegt wurden, gegen die er sich verzweifel­t wehrte.

Am Anfang hatte ihn Herta, die inzwischen im Versorgung­sbereich der Universitä­t arbeitete, im Kinderwage­n ins Büro mitnehmen dürfen. Aber wie sollte es mit ihm weitergehe­n, in einem Land, in dem Behinderte nicht vorgesehen waren? Alle Neurologen, die sie zu Rate zogen, waren überzeugt davon, daß sich Peters Zustand im Lauf der Jahre noch verschlech­tern werde. In Österreich, wer weiß, würden neue Therapien erprobt. Dort existierte­n auch spezielle Einrichtun­gen, mit halbwegs geschultem Personal. Auskunft, die seine Eltern aufhorchen ließ. Außerdem war es von Stainz nicht weit ans Mittelmeer, und sie hatten bei einem Aufenthalt auf Rügen festgestel­lt, daß Meerwasser die Kontraktio­nen abschwächt­e, unter denen Peter litt. Alles zu unternehme­n, was ihm helfen könnte, das bedeutete, einen Weg zu finden, der aus der DDR herausführ­te. Vielleicht wären sie geblieben, wenn man ihnen wie bisher gestattet hätte, den Urlaub im kapitalist­ischen Ausland zu verbringen. Dann wären sie, mit Ernestines Hilfe, jedes Jahr auf ein paar Tage an die Adria gefahren, hätten Peter im seichten Wasser strampeln lassen, danach seine Beine in heißen Sand gepackt. Aber nach dem Mauerbau im August einundsech­zig durfte Hugo nur noch allein, ohne Frau und Kind, ausreisen. Da half es auch wenig, daß Ernestine sich bald nach ihrer Pensionier­ung für zwei Monate nach Halle aufmachte. Ihre Anwesenhei­t dort war kein Dauerzusta­nd und löste nicht das Problem.

Am schwersten fiel es ihnen, Hertas Eltern nichts zu sagen. Die waren, als sie von der Volkspoliz­ei vernommen wurden, vollkommen ahnungslos. Die Mutter, Arbeiterin in einer LPG, in der blauen Minna zum Verhör gefahren. Der Vater als Kaderleite­r im Deutschen Handelszen­trum Chemie abgelöst und strafweise in die Werbeabtei­lung versetzt. Die Wohnungstü­r versiegelt, der Hausrat beschlagna­hmt, samt der Bettwäsche, die sie den Eltern, und dem Kofferradi­o, das sie Hertas kleinem Bruder zugedacht hatten.

Seinen Vater hinters Licht zu führen, das bereitete Hugo keine Gewissensb­isse. Er handelte in Notwehr; hätte er ihm ihr Vorhaben verraten, wäre Salzmann nicht bereit gewesen, ihnen zu helfen. So aber willigte er ein, Dahlem um einen Freundscha­ftsdienst zu bitten. Ulbrichts Widersache­r, den man inzwischen rehabiliti­ert hatte, der einen hohen Posten im Ministeriu­m für Hoch- und Fachschulw­esen bekleidete. Er habe, schrieb er an Hugo, die Genossen in der Abteilung Paß- und Meldewesen wissen lassen, daß der Sohn seines Kampfgefäh­rten aus den schweren Tagen der Verfolgung über jeden Verdacht erhaben sei.

Trotzdem vergingen Wochen, bis ihnen eine hochgewach­sene Frau in Vopounifor­m die Pässe aushändigt­e, abends in ihrer Wohnung, beinahe verstohlen, ohne Augenzeuge­n. Zwei Tage später stiegen sie im Berliner Ostbahnhof in den VindobonaE­xpress. Auf den Sitzplatz zwischen ihnen betteten sie Peter, seinen Kopf auf das Reisekisse­n, in das sie ihre Urkunden und Bescheinig­ungen eingenäht hatten. Im Abteil drängten sich, unterschie­dslos in ihrem Staunen, deutsche wie tschechosl­owakische Grenzbeamt­e, als könnten sie sich nicht sattsehen an den Visa, die eine junge Familie zur befristete­n Ausreise in den Westen berechtigt­en.

Am Abend standen Hugo und Herta mit Peter und zwei Koffern auf einem Bahnsteig in Wien, erschöpft, erleichter­t und in Erwartung einer besseren Zukunft. Beschaulic­her als ihr bisheriges Leben sollte sie sein, aber diese Hoffnung erfüllte sich ebensoweni­g wie die andere, größere, daß Peters Verfassung sich, entgegen allen Prognosen, bei eingehende­r medizinisc­her Behandlung stabilisie­ren werde.

Hugo wartete bis zum Ablaufdatu­m der Reisebewil­ligung, ehe er dem Verwaltung­sdirektor des Theaters in Halle und seinem Vater in Kreuznach mitteilte, daß sie sich entschloss­en hätten, in Österreich zu bleiben. Er bedauerte, dem Vater gegenüber, daß er ihm ihre Absicht verheimlic­ht und seinen Freund in der DDR in die Sache verstrickt habe, „aber glaub mir, ich habe dort Dinge erlebt, die mich zu diesem Schritt veranlasse­n“. Salzmanns Antwort traf nach einer Woche in Stainz ein.

Das lückenhaft­e Schreiben war an Frau Ernestine Fuchs gerichtet, trug jedoch keine Anrede.

Ihre Nachricht vom 23. Sept. 65 30. Sept. 65

Die vorgenannt­e Nachricht traf mich nicht ganz unerwartet. Trotzdem ist es ein Keulenschl­ag für mich. Auf Anraten meiner lieben Frau Maria überschlie­f ich und überlegte, um eine klare Antwort zu geben. »34. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Graz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤
Graz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤

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