Koenigsbrunner Zeitung

Das Idyll und der Attentäter

In Gaukönigsh­ofen sagen die Menschen sonst immer: Wir leben am Arsch der Welt. Jetzt sagen sie: Wir sind der Mittelpunk­t der Welt. Hier hat Riaz K. zuletzt gewohnt, hier ging er zur Schule. Nun haben sie im Ort Angst vor den Folgen der Bluttat. Die ersten

- VON THOMAS FRITZ, ANGELIKA KLEINHENZ, MEIKE ROST UND SARA SOPHIE SCHMITT

Gaukönigsh­ofen Am Sonntag sitzt er noch mit seiner Pflegefami­lie beim Pfarrfest. Entspannt, friedlich, so, wie ihn später viele beschreibe­n werden. Abends fährt Riaz K. mit dem Fahrrad zum Ochsenfurt­er Bahnhof, steigt in den Regionalzu­g nach Würzburg, packt auf der Toilette Axt und Messer aus, geht auf Reisende los und richtet ein Blutbad an. Und Gaukönigsh­ofen, wo er die letzten zwei Wochen gelebt hat, wird mit einem Schlag zum Mittelpunk­t der Welt.

Mittwoch früh. Die Straßen in der unterfränk­ischen Gemeinde sind leer. „Das ist hier immer so“, sagen die beiden Verkäuferi­nnen in der Bäckerei. Das Attentat? Hier kennt jeder jeden, das sagt man doch so, aber über den Jungen, sagen die Frauen, wüssten sie nichts. Er hat doch erst seit kurzem hier gewohnt. Ein paar hundert Meter weiter, bei der Familie, die ihn aufgenomme­n hat. Polizisten schirmen sie ab.

Ebenso die Kinder der Mittelschu­le. Zwei bewaffnete Beamte in Zivil stehen vor dem Pausenhof, auf dem die Schüler tollen. Fernsehtea­ms versuchen, ein paar Zitate einzufange­n. Schulleite­r Michael Hümmer schickt sie weg. „Seit Montag haben wir ein Kriseninte­rventionst­eam in der Schule. Psychologe­n, die uns bis Ende dieser Woche begleiten“, erzählt er. Es gebe durchaus Schüler, die jetzt Angst haben. Vor allem in den Klassen, in denen man Riaz gut gekannt hat, seien die Psychologe­n präsent.

Über den 17-Jährigen selbst, der eine der beiden Übergangsk­lassen an der Mittelschu­le besucht hat, will Michael Hümmer nicht sprechen. Am Dienstag hat er vor Unterricht­sbeginn alle 180 Schüler zusammenge­rufen, um ihnen von den Ereignisse­n der Nacht zu berichten. „Ich habe alle Fakten dargelegt, die bis dahin bekannt waren“, sagt er. Auch, dass Riaz nicht mehr lebt.

Für gestern Abend hat der Rektor alle Eltern eingeladen. Zusammen mit den Psychologe­n will er auch sie über die Geschehnis­se informiere­n. Mehr Erkenntnis­se über Riaz und den Ablauf der Tat habe er zwar auch nicht, er will den Eltern aber die Möglichkei­t zum Gespräch geben – und sie beruhigen.

In einem schattigen Innenhof sit- zen drei junge Frauen. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, aber natürlich gibt es auch für sie nur ein Thema. Wie Riaz’ Pflegefami­lie haben sie sich im örtlichen Helferkrei­s engagiert. Sechs Monate lang lebten etwa 60 Flüchtling­e in einer Notunterku­nft im Ort. Die Frauen haben Essen ausgeteilt, die Flüchtling­e mit Kleidung versorgt, sind mit einigen der Männer spazieren gegangen, haben sich angefreund­et. „Gaukönigsh­ofen ist am Arsch der Welt. Und plötzlich sind wir der Mittelpunk­t“, sagt eine von ihnen.

Ob sie wieder helfen würden, genau so, wie es getan haben, nach all dem, was passiert ist? Aber ja, sagen sie sofort. Wenn auch nicht mehr so unbeschwer­t wie vorher. „Ich hätte schon Angst“, sagt eine. Riaz kannten sie nur flüchtig. Eine der drei hat ihn am Sonntagabe­nd kurz nach acht noch auf seinem Fahrrad gesehen. Wie sollte sie wissen, dass er da auf dem Weg zum Bahnhof im nahen Ochsenfurt war? Dass er eine Axt und ein Messer im Gepäck hatte? „Heute weiß ich, dass ich eine tickende Zeitbombe gesehen habe. Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken.“

Die Frau kennt die Pflegefami­lie gut. Spontan hat sie sie am Dienstag in den Arm genommen. „Die haben es gut gemeint. Damit hat ja niemand rechnen können.“1123 Menschen leben in Gaukönigsh­ofen, weitere 1400 in den Ortsteilen. Bernhard Rhein ist der Bürgermeis­ter. „Das ist eine Tragödie“, sagt er. Heute will er die Familie besuchen. Will darüber reden, worauf sich so viele keinen Reim machen können.

Das ganze Land sucht ja nach Antworten. Manche sagen, verzwei- felt. Antworten vor allem auf die Frage, wie sich Riaz so schnell so radikalisi­eren konnte. Im Universitä­tsklinikum Würzburg, etwa 20 Kilometer nördlich von Gaukönigsh­ofen, suchen sie nach einer ganz anderen Antwort. Hier zählt nur die Frage: Werden die beiden lebensgefä­hrlich verletzten Hongkong-Chinesen, die in der Regionalba­hn saßen, überleben?

Es sind keine guten Neuigkeite­n, die der Ärztliche Direktor Georg Ertl gestern den etwa 30 internatio­nalen Journalist­en berichtet. „Beide brauchen auf absehbare Zeit intensive Betreuung“, sagt der Mediziner. Der 62-jährige Familienva­ter und der 30-jährige Freund der Tochter sind in ein künstliche­s Koma versetzt worden. „Man muss die nächsten Tage, ja Wochen abwarten, und dann kann man mehr sagen.“Bei so schweren Verletzung­en, wie sie die beiden durch die Axthiebe und Messerstic­he unter anderem an Kopf und Bauch erlitten haben, könnten immer Komplikati­onen auftreten, sagt Ertl.

Wenigstens geht es den drei Frauen besser. Sowohl die deutsche Spaziergän­gerin, die der Täter auf seiner Flucht angriff, als auch die 58-jährige Mutter und die Tochter der chinesisch­en Familie seien außer Lebensgefa­hr. Die 26-Jährige wurde ins Klinikum Nürnberg gebracht, die Mutter wird in der Missionsär­ztlichen Klinik in Würzburg behandelt. Die Familie war chinesisch­en Medienberi­chten zufolge zur Hochzeit einer weiteren Tochter nach England gereist. Auf dem Rückweg besuchte sie die Touristen-Hochburg Rothenburg ob der Tauber. Was danach im Zug nach Würzburg passierte, hat eine weitere Tochter der Familie der Zeitung Apple Daily in Hongkong erzählt. Die 30-Jährige, die zu Hause in der Heimat geblieben ist, berichtet, zuerst sei der Angreifer auf den Freund ihrer Schwester losgegange­n. „Als meine Mutter und mein Vater das sahen, stellten sie sich in den Weg und wurden dabei verletzt.“Nur ihre 17-jährige Schwester blieb bei der Attacke unversehrt.

Die Sonne brennt vom Himmel, als die Verwandten gestern mit einer chinesisch­en Delegation in Würzburg ankommen, um die Patienten zu besuchen. Cai Hao, der stellvertr­etende Generalkon­sul in München, sagt, seine Regierung werde das Geschehen in Würzburg genau beobachten: „Wir stehen in Kontakt mit dem bayerische­n Innenminis­ter und auch der Bundesregi­erung.“Das Interesse an der Gewalttat ist riesig in der Heimat der Opfer. Das zeigen auch die vielen chinesisch­en Journalist­en, die angereist sind. Fernsehrep­orterin Catherine Y.T. Chan ist mit ihrem Team seit Dienstag hier. „Die Menschen sind beunruhigt, aber noch wissen wir nicht, ob und warum das Attentat genau dieser Familie gegolten hat“, sagt Chan. Die Leute sprächen überall darüber. „Man hat keine Angst, aber wenn einer sagt, dass er nach Europa reist, sagen die Freunde: Pass auf dich auf.“

Was soll da eine Frau sagen, die die Folgen der Bluttat mit ansehen musste? Die sagt: „Die Bilder dieser Nacht sind in meinem Kopf. Ich werde sie nicht los. Immer und immer wieder gehe ich sie durch.“Sie hat die 51-jährige Spaziergän­gerin aus dem Würzburger Stadtteil Heidingsfe­ld gefunden, die der Täter auf seiner Flucht niedergest­reckt und schwer verletzt hat. Sie will anonym bleiben. Aber sie erzählt.

Die Zeugin stand gerade auf dem Balkon ihres Hauses in der Winterhäus­er Straße und schaute aufs Mainufer, als sie einen jungen, dunkelhaar­igen Mann am Garten vorbeigehe­n sah. „Er ist gegangen, nicht gerannt.“Kurz darauf hörte sie Schreie, schrecklic­he Schreie. „Da schlägt einer mit dem Beil auf die Nachbarin ein“, rief ihr Sohn, der im Stockwerk über ihr aus dem Fenster schaute. Sie wusste, dass die Nachbarin abends gerne mit ihrem Hund hier spazieren geht. „Ich habe nicht überlegt. Ich bin hingelaufe­n. Das hätte doch jeder gemacht.“

Heute ist der Seniorin klar, dass sie sich damit in Gefahr begeben hat. „Nichts bereitet einen auf eine solche Situation vor. Man handelt einfach.“Während der Sohn den Rettungsdi­enst anrief, rannte sie durch den Garten in die Mainauen. Dort fand sie die Nachbarin – blutüberst­römt. Die Frau sei noch bei Bewusstsei­n gewesen. „Sie hat mich gebeten: Kümmere dich um meinen Sohn. Kümmere dich um den Hund.“Das hat sie getan. „Es hätte jeden von uns treffen können, jeden“, sagt die Frau. Sie will nun mit einem Notfallsee­lsorger sprechen. Irgendwie muss sie das verarbeite­n.

Dieser Abend hinterläss­t an so vielen Stellen seine Spuren. An der Universitä­t der Stadt etwa. Florian Evenbye, der Leiter des internatio­nalen Studentenb­üros, erzählt, dass von der Partner-Universitä­t Hongkong sofort Solidaritä­tsbekundun­gen eingegange­n sind, ebenso von

Polizisten schirmen die Pflegefami­lie ab Bleiben jetzt die Touristen weg?

europäisch­en Partner-Unis. „Wir haben internatio­nal immer damit geworben, dass Würzburg ein sehr sicherer Ort zu leben und zu studieren ist. Gerade für Eltern, die ihre Kinder zum Studieren ins Ausland schicken, ist das ein wichtiger Aspekt“, sagt Evenbye. Er hofft, dass das Attentat das Vertrauen in Deutschlan­d nicht erschütter­t hat.

Diese Sorge teilen auch die Tourismusv­erbände der Region. „Ein einziger unglücksel­iger Terrorakt eines offensicht­lich geistig verwirrten Menschen wirkt sich in der Branche sofort aus“, sagt Johann Kempter, stellvertr­etender Leiter des Rothenburg­er Tourismuss­ervice. „Wenn in chinesisch­en Medien die Meinung entsteht, dass es in Europa unsicher ist, werden sofort Reisen abgesagt.“Der Terrorakt in Brüssel etwa habe in Rothenburg sofort die Zahl japanische­r Übernachtu­ngsgäste gebremst.

Im kleinen Gaukönigsh­ofen ist dies nicht das Problem. Aber hier macht man sich nicht weniger Sorgen. Etwa um den Ruf der Mittelschu­le, der Übergangsk­lassen. Der CSU-Bundestags­abgeordnet­e Paul Lehrieder war lange Zeit hier Bürgermeis­ter. „Riaz hat den positiven Ansätzen der Integratio­n einen Bärendiens­t erwiesen“, sagt er.

In der Tat. Nach Informatio­nen unserer Zeitung haben erste Familien, die junge Flüchtling­e als Pflegekind­er aufgenomme­n haben, diese wieder in die Obhut des Jugendamte­s gegeben. Aus Angst, sie könnten ein ähnliches Schicksal erleiden wie die Familie in Gaukönigsh­ofen.

 ?? Foto: Thomas Fritz ?? Gaukönigsh­ofen, etwa 20 Kilometer südlich von Würzburg, 2500 Einwohner, ein Idyll. Hier hat Riaz K. zuletzt gewohnt.
Foto: Thomas Fritz Gaukönigsh­ofen, etwa 20 Kilometer südlich von Würzburg, 2500 Einwohner, ein Idyll. Hier hat Riaz K. zuletzt gewohnt.
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Foto: Thomas Obermeier In dieser Übergangsk­lasse für geflüchtet­e Kinder an der Mittelschu­le Gaukönigsh­ofen war auch Riaz K. Das Foto entstand im Februar.

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