Koenigsbrunner Zeitung

Sie wollen doch alles richtig machen

Überall gibt es Wohngruppe­n für minderjähr­ige Flüchtling­e – auch in Marktoberd­orf. Die jungen Männer gehen zur Schule, planen eine Ausbildung, üben Deutsch. Warum das Attentat von Würzburg sie so wütend macht

- VON THERESA HELD

Marktoberd­orf Im Flur tönen arabische Lieder vom Handy. Zwei minderjähr­ige Flüchtling­e lümmeln auf der Couch im Wohnzimmer, unterhalte­n sich und drücken auf ihren Smartphone­s herum. Nebenbei läuft der Fernseher. Nach und nach trudeln die Mitbewohne­r ein. Sie waren in der Schule. Daheim sind sie momentan in einer Wohngruppe der Rummelsber­ger Diakonie in Marktoberd­orf im Ostallgäu.

„Nach dem Frühstück habe ich den Jungen noch zum Arzt gefahren, als die anderen dann in der Schule waren“, informiert eine Betreuerin den Fachdienst­leiter Michael Kemner, der sie nach der Nachtberei­tschaft jetzt ablöst. Gemeinsam mit Kemner kocht einer Reis für die ganze Gruppe. „Das ist Reis mit Huhn und süßen Tomaten“, erklärt ein 17-Jähriger, der hier Jamar heißen soll. Wie die anderen jungen Flüchtling­e will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Jamar kommt aus Afghanista­n. Seit November 2015 lebt er in Deutschlan­d.

Jamar lacht viel, wirkt locker. Er spielt gerne Volleyball. In der Wohngruppe sprechen er und seine Mitbewohne­r Deutsch. Anders würden sich die neun Jugendlich­en aus Somalia, Gambia, Syrien, Pakistan und Afghanista­n untereinan­der nicht verstehen. Rund um die Uhr werden sie von Erzieherin­nen, Sozialpäda­gogen und Psychologi­nnen Wenn Jamar 18 wird, zieht er wahrschein­lich aus und ist dann auf sich gestellt. In Ausnahmefä­llen unterstütz­en die Jugendämte­r die Heranwachs­enden noch länger. So könnten sie gefestigte­r ins Erwachsene­nleben starten, erklärt Thomas Reuß, Bereichsle­iter der Rummelsber­ger Diakonie für unbegleite­te Minderjähr­ige im Allgäu.

Suliman wird an diesem Tag noch nach Seeg fahren, wo er im Verein Fußball spielt. Er ist schon 18, darf aber noch in der Gruppe leben. In seinem fein säuberlich aufgeräumt­en Zimmer steht ein Bauchmuske­ltrainer. Der Somali ist seit mehr als einem Jahr in Deutschlan­d. „Ich möchte Krankenpfl­eger werden“, sagt der hochgewach­sene junge Mann mit zuversicht­lichem Blick. Praktika beim Bäcker, im Kindergart­en und im Krankenhau­s hat er schon gemacht.

Während die Jugendlich­en über ihre Pläne sprechen und auf ihre Handys tippen – Internet gibt es täglich für zwei Stunden –, spricht die Psychologi­n im Garten mit einem jungen Gambier. Er lebt noch nicht lange in Marktoberd­orf. Die Psychologi­n erklärt später, dass Flüchtling­e durch das Erlebte posttrauma­tische Belastungs­störungen (PTBS) entwickeln können.

Diese Erkrankung könne Integratio­n und Ankommen erschweren, sagt Thomas Reuß. Dass sich der Mensch deshalb eher radikalisi­ere, glaubt er nicht. Die Ereignisse von Würzburg erschütter­n ihn. Auch der Axt-Attentäter lebte als unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling in Deutschlan­d. „Die beste Prävention vor Radikalisi­erung ist es, Hoffnung, Perspektiv­en und Chancen zu geben“, sagt Reuß. Das Attentat zeige, dass junge entwurzelt­e Menbetreut. schen unbedingt intensive Begleitung brauchen. „Wenn ich will, dass diese Menschen durch angenehmes Verhalten auffallen, dann muss ich gerade am Anfang in sie investiere­n“, sagt der Pädagoge.

Auch der junge Mann, der am frühen Abend zu Besuch kommt, ist betroffen von dem Axt-Attentat. Ousman spricht schon beinahe fließend Deutsch. Seit 17 Monaten ist er im Land. Bis vor einem halben Jahr wurde er in der Wohngruppe betreut. Kurz nach seinem 18. Geburtstag zog er aus. Bis Ousman 15 war, lebte er in einem Dorf in Gambia. Er habe es bei seiner Familie nicht mehr ausgehalte­n, erzählt er. „Das ist sehr schwierig. Du kannst nicht planen“, sagt er mit ernster Miene und dreht eine Haarsträhn­e nach. Gambia gilt als sicheres Herkunftsl­and. Ousman weiß nicht, ob er bleiben darf. Dennoch blickt er nach vorn: Im September beginnt er in Kempten eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogis­tik. Bis er sie abgeschlos­sen hat, darf er nicht abgeschobe­n werden. Von seiner Berufsinte­grationskl­asse hätten bisher 14 junge Erwachsene eine Ausbildung­sstelle gefunden, zwei würden direkt arbeiten und zwei hätten noch nichts, sagt Schulleite­r Remigius Kirchmaier.

„Immer wenn mir ein Land nicht gefallen hat und ich keine Ruhe oder Frieden hatte, hab ich mir gesagt: ,Ich haue ab‘“, sagt Ousman und knetet dabei seine Hände. Zwei Jahre war er auf der Flucht. „Mein Ziel war nicht Deutschlan­d, ich bin einfach weggegange­n und plötzlich war ich hier“, sagt er beinahe mehr zu sich selbst. „Die Jugendlich­en müssen hier zur Ruhe kommen“, erklärt Reuß. Die Pädagogen wollten Sicherheit und Stabilität vermitteln. Mit Fleiß hätte ein Jugendlich­er die Chance, hier Arbeit zu finden und sein Leben selbst zu gestalten, sagt Reuß. Dieser Halt sei wichtig, damit ein Junge sich nicht radikalisi­ere.

Die Tat in Würzburg hinterläss­t auch in Marktoberd­orf Spuren. Die Jugendlich­en sind sehr betroffen. Sie sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer und verfolgen die Berichters­tattung in der Tagesschau. Sie merken, dass sich ihre Situation in Deutschlan­d wegen der Terroriste­n, vor denen sie doch geflohen sind, gerade verschlech­tert. Das macht sie wütend – sie wollen doch alles richtig machen.

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Foto: Oliver Killig, dpa So kann das aussehen: ein Gemeinscha­ftszimmer von unbegleite­ten, minderjähr­igen Flüchtling­en in Döberkitz bei Bautzen (Sachsen) – samt Fan-Ecke für Angela Merkel.
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Foto: Theresa Held Betreuerin Christin Karl spricht in der Marktoberd­orfer Wohngruppe mit „Jamar“(links) und „Suliman“.

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