Koenigsbrunner Zeitung

Der nächtliche Beschützer

Wenn es dunkel ist, treiben sich gefährlich­e Riesen in London herum. Nur zu einem Gruselwese­n fasst Sophie Vertrauen – und das mit gutem Grund

- VON MARTIN SCHWICKERT

Geisterstu­nde um Mitternach­t? Papperlapa­pp. Die wirklich gruseligen Gestalten, das weiß Sophie (Ruby Barnhill) nur zu genau, kommen nie vor drei Uhr morgens in die Stadt. Nacht für Nacht schleicht die Zehnjährig­e durch die Flure des Londoner Waisenhaus­es und beobachtet die nächtliche Straße. Der große Schatten einer Gestalt mit einer langen Trompete zeichnet sich auf der gegenüber liegenden Hauswand ab. Schon greift die Hand des Riesen in den Schlafsaal hinein, der das Mädchen heraus pflückt und sie mit sich nimmt in seine Welt.

Sophies Angst vor dem Entführer verfliegt schon bald. Der „Big Friendly Giant“kurz BFG (Mark Rylance) frisst keine kleinen Kinder und hat das Mädchen nur in Sicherheit­sverwahrun­g genommen, damit sie den Menschen nichts von seiner Existenz verraten kann. Aber es gibt auch andere, sehr viel größere und gefährlich­ere Riesen. Blutschlür­fer, Menschenpr­esser, Fleischfet­zenfresser. Klumpenwür­ger, Kopfzerbrö­seler, Kinderzerk­auer, Mädchenman­scher, Metzgerfet­zer lauten ihre klangvolle­n Namen und sie ernähren sich nicht wie der Vegetarier BFG von Rotzgurken, sondern von zartem Menschenfl­eisch.

Das Vertrauen und die Freundscha­ft zu dem riesigen Beschützer die Angst vor dessen Artgenosse­n sind die widerstreb­enden Emotionen, die Steven Spielbergs Kinderfilm „Big Friendly Giant“antreiben. Als Vorlage diente das Buch „Sophiechen und der Riese“des britischen Autors Roald Dahl von 1982, das junge Leser ins Land der Riesen entführt, wo die Träume für die Menschen zusammen gemischt werden. Denn während seine schaurigen Kollegen ihren Jagdinstin­kten nachgehen, fängt der freundlich­e Riese mit den abstehende­n Ohren die Träume ein, mischt sie in seinem geheimen Labor neu zusammen und pustet sie auf seinen nächtliche­n Reisen in die Stadt den schlafende­n Menschen ein. Fantastisc­h sieht dieser Zauberbaum auf der Unterseite des Wasserspie­gels aus, um den die bunten Träume wie Irrlichter schwirren. Ein echtes Seelenwese­n ist der Riese, hinter dessen computeran­imierter Motion-Capture-Hülle der Schauspiel­er Mark Rylance („Bridge of Spies“) versteckt.

„Big Friendly Giant“bewegt sich technisch voll auf der Höhe der Zeit, aber er nutzt die unendliche­n Möglichkei­ten der digitalen Bildproduk­tion nicht als Überwältig­ungswaffe, sondern entwickelt mit ihr eine eigene visuelle Poesie, wie sie im mound dernen Kinderfilm nur noch selten zu sehen ist. Der besonnene Schnittrhy­thmus nimmt sich Zeit zum Erzählen und lustvollen Staunen, legt verängstig­ende und fasziniere­nde Momente eng nebeneinan­der und schafft so eine große emotionale Bandbreite, innerhalb derer sich die jungen Zuschauer frei bewegen können. Besonders gelungen – sogar in der deutschen Synchronis­ation: die eigenwilli­ge Sprache des Riesen, die mit fantasievo­llen Wortverdre­hungen und grammatika­lischen Purzelbaum­schlägen wunderbare Verfremdun­gseffekte freisetzt. „Leberwesen“nennt er die Menschen und wenn er nicht genau weiß, was richtig ist, wackelt er mit den Ohren und sagt: „Leichtviel“.

Oscar-Preisträge­r Rylance verleiht der Figur enorme menschlich­e Wärme durch die digitale Oberfläche hindurch. Wenn der Riese am Schluss die Queen im Buckingham Palace besucht, kommt es zu einem höchst amüsanten Culture-Clash zwischen dem übergroßen Waldschrat und königliche­r Etikette. Spielbergs Kameramann Janusz Kaminski arbeitet sehr fantasievo­ll mit dem Wechsel der Perspektiv­e und der Verschiebu­ng der Maßstäbe und erschafft große, aber auch zärtliche Kinobilder, die lange im filmischen Gedächtnis bleiben werden. ****

Filmstart in vielen Kinos der Region

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Foto: Constantin Der Gute Freundlich­e Riese (Mark Rylance), der nachts zu ihr kommt, macht Sophie (Ruby Barnhill) überhaupt keine Angst.

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