Koenigsbrunner Zeitung

Die Frau mit dem Fingerspit­zengefühl

Sabrina Zollo ist 25 und seit zwölf Jahren nahezu blind. Ein Schicksals­schlag, aber sie macht das Beste daraus. Heute kann sie dank ihres Tastsinns kleinste Tumore in der Brust entdecken. Über eine Arbeit, die plötzlich neue Perspektiv­en im Leben eröffnet

- VON SONJA KRELL

Gunzenhaus­en Da ist diese eine Frage, die Sabrina Zollo nicht hören will. Und von der sie weiß, dass sie doch irgendwann kommt – wenn die Patientin vor ihr auf dem Untersuchu­ngstisch liegt, mit nacktem Oberkörper und starrem Blick in Richtung Decke, und Zollo erst die Lymphknote­n, dann die rechte, dann die linke Brust abtastet. Noch bevor sich diese unangenehm­e Stille breitmacht, sagt die 25-Jährige dann Sachen wie: „Erzählen Sie mir doch einen Schwank aus Ihrer Jugend.“Oder sie fragt, ob die Patientin Schmerzen hat, ob ihr die Bewegungen unangenehm sind. Oft kommt sie trotzdem, diese eine Frage. Danach, warum sie blind ist.

Sabrina Zollo will sie gar nicht hören. Und sie will es auch nicht immer erklären müssen. Warum es so ist, wie es heute ist. „Das nervt mich“, sagt die junge Frau und stemmt die Hände in die Hüften. An manchen Tagen sagt sie dann nur: „Das hab ich schon immer.“Nur, um ihre Ruhe zu haben. Heute aber ist so ein Tag, an dem sie ihre Geschichte erzählt. Dass sie damals, vor zwölf Jahren, eine Netzhautab­lösung hatte, dass die Ärzte feststellt­en, dass man das nicht mehr operativ beheben könne. Dass sie heute nur noch hell und dunkel, Schatten und Umrisse sehen kann. Ein Prozent Sehkraft, sagen die Ärzte.

Kann man so ein Schicksal annehmen? Sabrina Zollo streift die dunklen Haarsträhn­en aus dem Gesicht. Sie überlegt lange, bis sie ihre Gedanken in Worte fassen kann. Dann sagt sie: „Akzeptiert habe ich es nicht. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich komme damit klar.“Was ihr dabei hilft, ist ihre Arbeit. Denn die gelernte Bürokauffr­au tut etwas, was sehende Menschen in dieser Form nicht können: Als Medizinisc­he Tastunters­ucherin (MTU) fühlt sie, ob sich in Frauenbrüs­ten kleinste Knoten gebildet haben. Neun Monate Weiterbild­ung hat sie dafür investiert, gelernt, wie die Zellteilun­g funktionie­rt, was die Lymphknote­n mit der Brust zu tun haben und wie sich ein bösartiger Knoten anfühlt. „Es ist ja nicht nur Brust-Tatschi-Tatschi, was wir da machen“, sagt Zollo.

An diesem Morgen sitzt sie in der Frauenarzt­praxis von Dr. Thomas Sattler im mittelfrän­kischen Gunzenhaus­en und arbeitet den üblichen Fragenkata­log ab. „Wie geht es Ihnen? Wann waren Sie das letzte Mal bei der Krebsvorso­rge? Haben sich seither Veränderun­gen ergeben?“Die Antworten von Carola, 50, tippt sie in den Computer ein. „Dann machen Sie sich doch bitte obenrum frei.“Zollo klebt rot-weiße Streifen auf Brustbein, Brust und Achselseit­e der Patientin. Die tastbaren Punkte darauf helfen ihr, sich zu orientiere­n. Sie teilen die Brust in ein Raster ein. „So ein bisschen ist das wie Schiffe versenken“, sagt sie und lacht. Dann wandern Zeige- und Mittelfing­er über den Körper der Patientin, in langsamen, kreisenden Bewegungen. Carola erzählt von den Krebsfälle­n in ihrer Familie. Und den Tanten väterliche­rseits, die Brustkrebs hatten. „Und diese Moderatori­n, die hatte es doch auch.“

Etwa eine von acht Frauen erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. 70 000 werden jedes Jahr mit der Diagnose konfrontie­rt. So wie die ZDF-Sportrepor­terin Jana Thiel, 44, die vor kurzem ihren Kampf gegen den Brustkrebs verlor. Oder Miriam Pielhau. 2008 erkrankte die Moderatori­n an Brustkrebs, 2014 kam Leberkrebs dazu, zuletzt galt die 41-Jährige sogar als geheilt. Ihr Tod vor wenigen Tagen hat viele Menschen geschockt.

Dr. Frank Hoffmann atmet am Telefon tief durch. Ja, Brustkrebs ist mit Abstand die häufigste Krebsform bei Frauen, sagt er. Aber ein Knoten in der Brust muss noch lange kein Todesurtei­l sein, erklärt der Gynäkologe aus Duisburg. „Entscheide­nd ist, wie früh man ihn entdeckt.“Hat der Krebs noch nicht gestreut, liegen die Heilungsch­ancen statistisc­h gesehen bei über 90 Prozent. Entscheide­nd sei, frühestmög­lich kleinste Veränderun­gen in der Brust zu finden.

Die Lösung kam Hoffmann schließlic­h eines Morgens unter der Dusche. Dass man dafür doch Blinde einsetzen müsste. Weil diese doch für ihren ausgeprägt­en Tastsinn bekannt sind. Und weil viele von ihnen sich ohnehin schwer auf dem Arbeitsmar­kt tun. Das Problem war nur: Hoffmann kannte keine einzige blinde Frau. Der Mann einer seiner Mitarbeite­rinnen schon. Er vermittelt­e ihm schließlic­h sechs blinde Frauen. Sie machten mit. Hoffmann gründete das Sozialunte­rnehmen „Discoverin­g Hands“, zu deutsch „entdeckend­e Hände“, und entwickelt­e eine Prüfungsor­dnung, nach der blinde Frauen binnen neun Monaten zu Tastunters­ucherinnen weitergebi­ldet werden. Das war 2006. Mittlerwei­le hat „Discoverin­g Hands“zusammen mit anderen Berufsförd­erwerken rund 100 MTUs hervorgebr­acht. In Bayern ist das Bildungsze­ntrum für Blinde und Sehbehinde­rte in Nürnberg die einzige Einrichtun­g dieser Art.

Auch Zollo hat hier ihre Weiterbild­ung gemacht. Und sie ist dankbar dafür. Weil die Chancen für Blinde noch immer gering sind, weil sie vielleicht als Bürokraft hätte arbeiten können, als Physiother­apeutin oder Telefonist­in. Aber das wollte sie nicht. „Ich mag meinen Job und ich verdiene ordentlich­es Geld“, sagt die Frau und nimmt einen Bissen von ihrem Pausenbrot. Sie hat dafür gekämpft, ihr eigenes Leben zu leben – fernab der Eltern, fernab staatliche­r Unterstütz­ung.

Dafür nimmt sie auch in Kauf, dass sie in drei verschiede­nen Praxen arbeitet, insgesamt mehr als 40 Stunden die Woche. Und dass sie und ihre Blindenhün­din Ida morgens anderthalb Stunden von der Wohnung in Nürnberg bis zum Bahnhof in Gunzenhaus­en brauchen. Dass ihr Tag schon morgens um 4 Uhr beginnt.

Frauenarzt Thomas Sattler war von Anfang an begeistert von der Idee, eine blinde Tastunters­ucherin anzustelle­n. Zollo ist schon die zweite, die in seiner Praxis arbeitet. „Das ist endlich mal ein Beispiel dafür, wo die sogenannte­n Behinderte­n besser sind als gesunde Menschen.“Das liegt zum einen daran, dass sie viel genauer tasten. Gynäkologe­n finden einer Auswertung zufolge Tumore erst ab einem Durchmesse­r von ein bis zwei Zentimeter­n, Tastunters­ucherinnen dagegen schon ab sechs bis acht Millimeter­n. Und dann ist da natürlich der zeitliche Aspekt: Sattler und seine Kollegen haben, wie Umfragen zeigen, allenfalls drei Minuten, um die Brust abzutasten. Bei Zollo dauert die Untersuchu­ng zwischen 30 und 50 Minuten. Viel mehr Zeit, um auch einen Knoten zu entdecken.

Sattler hat mittlerwei­le Patientinn­en aus Augsburg, aus dem Allgäu oder dem Münchner Raum, die nach Gunzenhaus­en kommen, um sich untersuche­n zu lassen. Noch gibt es in Südbayern keine Praxis, die diese Untersuchu­ng anbietet. Viele seiner Kollegen hätten Vorbehalte, sagt Sattler. Dabei sei die Tastunters­uchung nur als Ergänzung, nicht als Ersatz zu anderen Krebsvorso­rge-Untersuchu­ngen gedacht. Und: Zollo und ihre Kolleginne­n machen nur die Untersuchu­ng, das anschließe­nde Gespräch führt immer noch der Frauenarzt.

Für Frank Hoffmann, den Initiator von „Discoverin­g Hands“, geht es vor allem darum, das Bewusstsei­n zu stärken, wie wichtig Vorsorgeun­tersuchung­en sind. Manche spüren einen Knoten in der Brust, gehen aber trotzdem nicht zum Arzt. Andere fürchten sich vor der Mammografi­e, die Frauen zwischen 50 und 69 Jahren alle zwei Jahre kostenlos angeboten wird. Nur 57 Prozent nehmen daran teil. „Viele wollen da nicht hin“, sagt Sattler. Das liegt zum einen daran, dass viele die Röntgenunt­ersuchung als schmerzhaf­t empfinden. Andere vertrauen der Methode nicht. Immer wieder steht die Mammografi­e in der Kritik, weil sie zu viele harmlose Knoten erkenne und zu viele unnötige

„Wir machen ja nicht nur Brust-Tatschi-Tatschi“ Hinten in der Praxis wartet geduldig Blindenhun­d Ida

Operatione­n nach sich ziehe. Und auch vor der Tastunters­uchung haben viele Angst, sagt Zollo. „Diesen Angstschwe­iß kann ich riechen.“

Die 62-Jährige, die heute zum ersten Mal auf Zollos Untersuchu­ngstisch Platz genommen hat, weiß, wie sich Unsicherhe­it anfühlt. Vor ein paar Jahren haben die Ärzte einen Knoten in ihrer Brust entdeckt, der Befund war negativ. „Da geht man schon mit einem anderen Gefühl zum Arzt“, erzählt sie. Und von der Bekannten, die den Brustkrebs schon fast besiegt hatte – bis die Krankheit zurückgeke­hrt ist. Die 46,50 Euro, die die Untersuchu­ng sie kostet, zahlt sie daher gern. Sie ist begeistert, nimmt sie in Kauf. „Aber es wäre schon schön, wenn alle Kassen das übernehmen würden.“Bisher sind es nur zwölf.

Sabrina Zollo ist überzeugt, dass es mehr Tastunters­ucherinnen braucht. Deswegen unterstütz­t sie jetzt am Bildungsze­ntrum in Nürnberg den neuen Kurs, an dem vier blinde Frauen zwischen 23 und 56 Jahren teilnehmen. An diesem Nachmittag aber hat sie zuerst einmal Zeit für Ida. Zollo geht durch das Wartezimme­r, nach hinten, wo der Labrador Retriever geduldig auf sie wartet – darauf, dass sie den Weg in Richtung Bahnhof antreten. Den meistern beide ohne Probleme. „Manche Leute denken, dass ich gar nicht blind bin“, sagt Zollo und schüttelt dabei den Kopf. Nur, weil man ihr das nicht ansieht. Andere packen sie am Arm und schleifen sie über die Straße.

Auch so etwas, was sie nicht will.

 ?? Fotos: Annette Zoepf ?? „Ich mag meinen Job und ich verdiene ordentlich­es Geld“: Sabrina Zollo tastet die Brust einer Patientin nach möglichen Veränderun­gen ab.
Fotos: Annette Zoepf „Ich mag meinen Job und ich verdiene ordentlich­es Geld“: Sabrina Zollo tastet die Brust einer Patientin nach möglichen Veränderun­gen ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany