Der steinige Weg zum Kita-Platz
721 000 Kinder unter drei Jahren werden in Deutschland in Krippen betreut. Ein Rekordwert. Manchmal klappt das aber nicht. Das zeigt ein Münchner Fall mit womöglich weitreichenden Folgen
Ansbach/München Eine junge Zahnärztin zieht mit Mann und Kind von Köln nach München und sucht nach einer Betreuungsmöglichkeit für den kleinen Sohn. Weil sie keinen passenden Platz in einer städtischen Einrichtung findet, wird das Kind in einer privaten Krippe angemeldet, einer modernen Luxus-Kita. Schließlich werden die Kinder dort nicht nur zweisprachig (deutsch und englisch) erzogen, es gibt auch Kinder-Yoga und Tanzkurse – für schlappe 1380 Euro im Monat.
Zum Vergleich: Ein städtischer Platz kostet im Höchstfall um die 400 Euro. Doch die Familie pocht auf das Recht des kleinen Kindes auf einen Betreuungsplatz und fordert die Stadt auf, die Differenz von fast 1000 Euro im Monat zwischen kommunalem und Luxus-Platz zu zahlen. Und nach Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes hat sie auch völlig recht damit. Schließlich sei die Stadt „nicht in die Puschen gekommen“, sagt der Vorsitzende Richter Karl-Georg Mayer am Donnerstag in einer Zweigstelle des Gerichtshofes in Ansbach. Im September 2013 habe sich die Familie um einen Krippenplatz für den kleinen Sohn zum 1. April beworben. Pech für die Stadt. „Da hätten sie bereits einen Platz reservieren müssen; am 1. April hätte der stehen müssen“, sagt Mayer.
Zwar soll das Urteil den Prozessparteien erst nächste Woche zugestellt werden; er lässt aber keinen Zweifel daran, wie es ausfallen wird. Aus seiner Sicht ändert es auch nichts, dass die Stadt der Familie Plätze bei sechs Tagesmüttern anbot. Er sieht den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz dadurch nicht erfüllt, weil die entweder zu kurze Betreuungszeiten angeboten hätten – oder mit einer Entfernung von knapp unter 30 Minuten mit der U-Bahn zu weit weg gewesen seien.
30 Minuten galten nach bisheriger Rechtsprechung als gerade noch zumutbar, doch Mayer sieht das anders. Man müsse sich auch einmal in eine Mutter hineinversetzen, die morgens eine Stunde brauche, um ihr Kind in die Kita zu bringen, und abends eine Stunde, um es wieder abzuholen. „Da muss man sich emotional einfühlen.“Die Zahnärztin habe kein Auto besessen. Es sei ihr auch nicht zuzumuten gewesen, eins zu kaufen oder Carsharing in Anspruch zu nehmen. Vom „Idealbild fußläufige Erreichbarkeit“sei das Angebot weit entfernt gewesen.
Das Urteil stärkt die Rechte der Familie im Kampf um begehrte Kita-Plätze – sorgt aber vor allem dafür, dass der Stadt München und womöglich auch anderen Kommunen und Bayern und ganz Deutschland angst und bange werden könnte. Zwar geht es im vorliegenden Fall nur um ein paar tausend Euro, doch nicht nur der Verwaltungsgerichtshof spricht von einem „Musterverfahren“. Allein dort sind derzeit fünf weitere, ähnlich gelagerte Fälle anhängig. Stadtdirektorin Susanne Herrmann vom zuständigen Referat für Bildung und Sport findet das Urteil mehr als bedenklich, weil es teure Krippen begünstige – und Eltern völlig unabhängig von ihrem Einkommen. Obwohl die klagende Familie schließlich einen Platz in einem städtischen Kindergarten angeboten bekommen habe, habe sie sich wieder für einen privaten entschieden, sagt Herrmann. Freiwillig.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zugelassen. Die Stadt München hat bereits angekündigt, diesen Weg gehen zu wollen.