Wie frei ist die Presse noch in der Türkei?
Wenn Präsident Erdogan etwas missfällt, zeigt er Journalisten persönlich an. Wie den preisgekrönten Chefredakteur Can Dündar. Der aber lässt sich nicht einschüchtern. Kürzlich besuchte er die kurdisch-türkische Zeitung Özgür Gündem
„Erdogan möchte der Alleinherrscher sein.“
Can Dündar, türkischer Journalist
Wenn Ahmet Birsin zu seinem Schreibtisch will, läuft er an Bildern seiner ermordeten Kollegen vorbei. 80 Journalisten der Zeitung Özgür Gündem sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten getötet worden. „Der Kampf ums Überleben ist unser Alltag“, sagt Birsin, der insgesamt fünfzehn Jahre in Gefängnissen im Südosten der Türkei saß. Der 48-jährige kurdisch-türkische Journalist kann nur mit Mühe laufen – die Folter in den Haftanstalten hat ihre Spuren hinterlassen.
Der Druck auf oppositionelle Zeitungen in der Türkei war stets groß, seit dem Putschversuch vor einer Woche ist er massiv gestiegen.
Kanzleramtschef Peter Altmaier äußerte sich schon am Sonntag besorgt im „Hinblick auf die Pressefreiheit und den Umgang mit der Opposition“. Christian Mihr, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“(ROG), forderte am Montag: „Auch nach dem Putschversuch muss das Handeln der türkischen Regierung im Rahmen der Verfassung bleiben – und die garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit.“
Am Mittwochabend dann verhängte Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ausnahmezustand. Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes, befürchtet, dass Erdogan die bereits stark eingeschränkte Pressefreiheit in der Türkei gänzlich unterbindet.
Der Druck auf oppositionelle Zeitungen ist groß, und doch gibt es sie. Noch. Zeitungen wie Birgün und Evrensel; Özgür Gündem („Freie Tagesordnung“) ist die einzige, die sich explizit kurdischen Themen widmet. 40 Mitarbeiter sind landesweit für das Blatt tätig, das mit einer Auflage von 20000 Exemplaren erscheint und seine Zentrale in Istanbul hat. Die Internetseite von Özgür Gündem ist nach ROG-Angaben in der Türkei schon länger gesperrt. Wer für Özgür Gündem arbeitet, muss täglich mit einer Festnahme oder einer Anklage rechnen.
Repressalien von wechselnden Machthabern und durch Nationalisten sind die Macher gewohnt. Doch die Situation verschärft sich seit einem Jahr spürbar. Damals wurde der Friedensprozess zwischen Ankara und der als Terrorgruppe verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufgekündigt; der Konflikt im kurdischen Südosten des Landes, das nach Autonomie strebt, eskalierte wieder. Gegen Özgür GündemMitarbeiter seien rund hundert Verfahren anhängig, sagt Birsin.
Deswegen startete die Zeitung am 3. Mai, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit, eine aufsehenerregende Aktion: Unterstützer übernehmen seitdem symbolisch für je einen Tag den Posten des Chefre- dakteurs. Zu den Unterstützern gehören auch Journalisten der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet. Deren Chefredakteur Can Dündar besuchte die Kollegen von der Özgür Gündem Ende Juni. Anfang Juli erhielt er in Hamburg von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“– Dündar bekam den Preis „für die mutigen Recherchen seiner Zeitung sowie für seinen Kampf um die Pressefreiheit“.
Er und sein Hauptstadtkorrespondent, Erdem Gül, waren im Mai von einem Gericht in Istanbul verurteilt worden. Dündar drohen fünf Jahre und zehn Monate Haft, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Präsident Erdogan persönlich hatte die beiden Journalisten, die 2014 über mutmaßliche geheime Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien berichteten, angezeigt. In der Anklageschrift wird ihnen laut Netzwerk Recherche vorgeworfen, sie hätten sich „geheimer Regierungsdaten“bemächtigt, um „politische und militärische Spionage“zu betreiben. Ihr Ziel sei es gewesen, die Regierung zu stürzen. Die Journalisten legten Berufung ein.
der noch am Tag der Urteilsverkündung am 6. Mai einen Mordanschlag auf ihn unverletzt überstand, befindet sich auf freiem Fuß. Seinen Chefredakteurs-Posten lässt er derzeit ruhen und macht Urlaub, überwiegend außerhalb der Türkei. Es soll eine konkrete Morddrohung gegen ihn gegeben haben. In einem Interview mit dem Rundfunksender Deutsche Welle sagte Dündar vor kurzem: „Erdogan möchte der Alleinherrscher in einem präsidialen System sein – und ist bereit, alles dafür zu tun.“
Gegen die meisten Unterstützer der Özgür Gündem wurden Ermittlungen eingeleitet. Der Stuhl in der Redaktion, auf dem sie Platz nehmen, wird von den Özgür GündemRedakteuren „die Anklagebank“genannt. Nach Angaben von Anwalt Özcan Kilic, der seit 20 Jahren das Blatt vertritt, führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf Grundlage der Antiterrorgesetze. Solche Anklagen werden von einer Sonderstaatsanwaltschaft verfolgt und die Beschuldigten vor Sondergerichten angeklagt.
Erol Önderoglu, Türkei-Korrespondent von „Reporter ohne Grenzen“, Sebnem Korur Fincanci, Vorsitzende der Stiftung für Menschenrechte (TIHV), und Ahmet Nesin, Journalist und Schriftsteller, stemmten sich gegen diese Form der Einschüchterung. Auch die in der Türkei überaus prominenten Linken übernahmen für einen Tag die Redaktionsleitung der Özgür Gündem – und mussten ins Gefängnis: Mitte Juni wurden sie nach einem Vernehmungstermin direkt in Gewahrsam genommen.
Binnen Tagen hatte es die Staatsanwaltschaft geschafft, eine Anklageschrift vorzubereiten und an die Große Strafkammer in Istanbul zu übermitteln, die für schwere Strafsachen zuständig ist. Darin werden Haftstrafen von bis zu vierzehn Jahren gefordert. Anderthalb Wochen nach ihrer Festnahme wegen „terroristischer Propaganda“wurden Önderoglu und Fincanci freigelassen, Nesin am 1. Juli unter Auflagen. Sie warten auf ihren Prozess.
„Die Situation in der Türkei ist noch schlimmer als vor dem Militärputsch 1980“, sagte Mehmet Akyol erst kürzlich. Der 62-jährige MaDündar, schinenbauingenieur schrieb einst für ein sozialistisches Blatt, das das Parteiprogramm der PKK veröffentlichte. Nach einem Todesurteil floh er 1980 in die Schweiz. Vor vier Jahren kehrte er zurück nach Istanbul, seit zwei Jahren ist er bei Özgür Gündem. Akyol könnte ein Leben als Rentner führen, hat sich aber entschieden, wieder gegen das System anzuschreiben.
„Wenn ich mich nicht jetzt solidarisiere, wann dann?“, sagt er. Immer weniger Kioske seien bereit, die Özgür Gündem zu verkaufen. Wer Abo-Exemplare verteile, sei Drohungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. „Für die Regierung und für Nationalisten sind wir Feinde, weil wir die Rechte von Kurden und anderen Minderheiten verteidigen.“
Gegründet wurde die Özgür Gündem 1992, zu einer Zeit, als die kurdische Sprache in der Öffentlichkeit noch verboten war. Mehrfach wurden ihr Druck und ihr Vertrieb verboten, zuletzt im März 2012. Begründet wurde das meist damit, dass die Zeitung Propaganda für die PKK verbreite. Dass sie häufig Kanal für Vorschläge der PKK ist, ist unbestritten. Ihre Macher sehen sie allerdings als Kanal des Austausches. „Wir Kurden werden doch sonst nur als Terroristen in den Medien dargestellt“, sagt Journalist Ahmet Birsin. „Deswegen sind wir ein unentbehrliches Medium, um zu zeigen, dass das kurdische Problem den Weg des Terrors verlässt und im Körper der zivilen demokratischen politischen Institutionen existieren kann.“Nach dem Putschversuch gilt das mehr denn je.