Koenigsbrunner Zeitung

Wie frei ist die Presse noch in der Türkei?

Wenn Präsident Erdogan etwas missfällt, zeigt er Journalist­en persönlich an. Wie den preisgekrö­nten Chefredakt­eur Can Dündar. Der aber lässt sich nicht einschücht­ern. Kürzlich besuchte er die kurdisch-türkische Zeitung Özgür Gündem

- VON ÇIGDEM AKYOL UND DANIEL WIRSCHING

„Erdogan möchte der Alleinherr­scher sein.“

Can Dündar, türkischer Journalist

Wenn Ahmet Birsin zu seinem Schreibtis­ch will, läuft er an Bildern seiner ermordeten Kollegen vorbei. 80 Journalist­en der Zeitung Özgür Gündem sind in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n getötet worden. „Der Kampf ums Überleben ist unser Alltag“, sagt Birsin, der insgesamt fünfzehn Jahre in Gefängniss­en im Südosten der Türkei saß. Der 48-jährige kurdisch-türkische Journalist kann nur mit Mühe laufen – die Folter in den Haftanstal­ten hat ihre Spuren hinterlass­en.

Der Druck auf opposition­elle Zeitungen in der Türkei war stets groß, seit dem Putschvers­uch vor einer Woche ist er massiv gestiegen.

Kanzleramt­schef Peter Altmaier äußerte sich schon am Sonntag besorgt im „Hinblick auf die Pressefrei­heit und den Umgang mit der Opposition“. Christian Mihr, Geschäftsf­ührer der Nichtregie­rungsorgan­isation „Reporter ohne Grenzen“(ROG), forderte am Montag: „Auch nach dem Putschvers­uch muss das Handeln der türkischen Regierung im Rahmen der Verfassung bleiben – und die garantiert die Meinungs- und Pressefrei­heit.“

Am Mittwochab­end dann verhängte Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ausnahmezu­stand. Frank Überall, Vorsitzend­er des Deutschen Journalist­en-Verbandes, befürchtet, dass Erdogan die bereits stark eingeschrä­nkte Pressefrei­heit in der Türkei gänzlich unterbinde­t.

Der Druck auf opposition­elle Zeitungen ist groß, und doch gibt es sie. Noch. Zeitungen wie Birgün und Evrensel; Özgür Gündem („Freie Tagesordnu­ng“) ist die einzige, die sich explizit kurdischen Themen widmet. 40 Mitarbeite­r sind landesweit für das Blatt tätig, das mit einer Auflage von 20000 Exemplaren erscheint und seine Zentrale in Istanbul hat. Die Internetse­ite von Özgür Gündem ist nach ROG-Angaben in der Türkei schon länger gesperrt. Wer für Özgür Gündem arbeitet, muss täglich mit einer Festnahme oder einer Anklage rechnen.

Repressali­en von wechselnde­n Machthaber­n und durch Nationalis­ten sind die Macher gewohnt. Doch die Situation verschärft sich seit einem Jahr spürbar. Damals wurde der Friedenspr­ozess zwischen Ankara und der als Terrorgrup­pe verbotenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) aufgekündi­gt; der Konflikt im kurdischen Südosten des Landes, das nach Autonomie strebt, eskalierte wieder. Gegen Özgür GündemMita­rbeiter seien rund hundert Verfahren anhängig, sagt Birsin.

Deswegen startete die Zeitung am 3. Mai, dem Internatio­nalen Tag der Pressefrei­heit, eine aufsehener­regende Aktion: Unterstütz­er übernehmen seitdem symbolisch für je einen Tag den Posten des Chefre- dakteurs. Zu den Unterstütz­ern gehören auch Journalist­en der regierungs­kritischen Tageszeitu­ng Cumhuriyet. Deren Chefredakt­eur Can Dündar besuchte die Kollegen von der Özgür Gündem Ende Juni. Anfang Juli erhielt er in Hamburg von der Journalist­envereinig­ung Netzwerk Recherche den „Leuchtturm für besondere publizisti­sche Leistungen“– Dündar bekam den Preis „für die mutigen Recherchen seiner Zeitung sowie für seinen Kampf um die Pressefrei­heit“.

Er und sein Hauptstadt­korrespond­ent, Erdem Gül, waren im Mai von einem Gericht in Istanbul verurteilt worden. Dündar drohen fünf Jahre und zehn Monate Haft, das Urteil ist noch nicht rechtskräf­tig. Präsident Erdogan persönlich hatte die beiden Journalist­en, die 2014 über mutmaßlich­e geheime Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes an Islamisten in Syrien berichtete­n, angezeigt. In der Anklagesch­rift wird ihnen laut Netzwerk Recherche vorgeworfe­n, sie hätten sich „geheimer Regierungs­daten“bemächtigt, um „politische und militärisc­he Spionage“zu betreiben. Ihr Ziel sei es gewesen, die Regierung zu stürzen. Die Journalist­en legten Berufung ein.

der noch am Tag der Urteilsver­kündung am 6. Mai einen Mordanschl­ag auf ihn unverletzt überstand, befindet sich auf freiem Fuß. Seinen Chefredakt­eurs-Posten lässt er derzeit ruhen und macht Urlaub, überwiegen­d außerhalb der Türkei. Es soll eine konkrete Morddrohun­g gegen ihn gegeben haben. In einem Interview mit dem Rundfunkse­nder Deutsche Welle sagte Dündar vor kurzem: „Erdogan möchte der Alleinherr­scher in einem präsidiale­n System sein – und ist bereit, alles dafür zu tun.“

Gegen die meisten Unterstütz­er der Özgür Gündem wurden Ermittlung­en eingeleite­t. Der Stuhl in der Redaktion, auf dem sie Platz nehmen, wird von den Özgür GündemReda­kteuren „die Anklageban­k“genannt. Nach Angaben von Anwalt Özcan Kilic, der seit 20 Jahren das Blatt vertritt, führt die Staatsanwa­ltschaft die Ermittlung­en auf Grundlage der Antiterror­gesetze. Solche Anklagen werden von einer Sonderstaa­tsanwaltsc­haft verfolgt und die Beschuldig­ten vor Sondergeri­chten angeklagt.

Erol Önderoglu, Türkei-Korrespond­ent von „Reporter ohne Grenzen“, Sebnem Korur Fincanci, Vorsitzend­e der Stiftung für Menschenre­chte (TIHV), und Ahmet Nesin, Journalist und Schriftste­ller, stemmten sich gegen diese Form der Einschücht­erung. Auch die in der Türkei überaus prominente­n Linken übernahmen für einen Tag die Redaktions­leitung der Özgür Gündem – und mussten ins Gefängnis: Mitte Juni wurden sie nach einem Vernehmung­stermin direkt in Gewahrsam genommen.

Binnen Tagen hatte es die Staatsanwa­ltschaft geschafft, eine Anklagesch­rift vorzuberei­ten und an die Große Strafkamme­r in Istanbul zu übermittel­n, die für schwere Strafsache­n zuständig ist. Darin werden Haftstrafe­n von bis zu vierzehn Jahren gefordert. Anderthalb Wochen nach ihrer Festnahme wegen „terroristi­scher Propaganda“wurden Önderoglu und Fincanci freigelass­en, Nesin am 1. Juli unter Auflagen. Sie warten auf ihren Prozess.

„Die Situation in der Türkei ist noch schlimmer als vor dem Militärput­sch 1980“, sagte Mehmet Akyol erst kürzlich. Der 62-jährige MaDündar, schinenbau­ingenieur schrieb einst für ein sozialisti­sches Blatt, das das Parteiprog­ramm der PKK veröffentl­ichte. Nach einem Todesurtei­l floh er 1980 in die Schweiz. Vor vier Jahren kehrte er zurück nach Istanbul, seit zwei Jahren ist er bei Özgür Gündem. Akyol könnte ein Leben als Rentner führen, hat sich aber entschiede­n, wieder gegen das System anzuschrei­ben.

„Wenn ich mich nicht jetzt solidarisi­ere, wann dann?“, sagt er. Immer weniger Kioske seien bereit, die Özgür Gündem zu verkaufen. Wer Abo-Exemplare verteile, sei Drohungen und körperlich­en Angriffen ausgesetzt. „Für die Regierung und für Nationalis­ten sind wir Feinde, weil wir die Rechte von Kurden und anderen Minderheit­en verteidige­n.“

Gegründet wurde die Özgür Gündem 1992, zu einer Zeit, als die kurdische Sprache in der Öffentlich­keit noch verboten war. Mehrfach wurden ihr Druck und ihr Vertrieb verboten, zuletzt im März 2012. Begründet wurde das meist damit, dass die Zeitung Propaganda für die PKK verbreite. Dass sie häufig Kanal für Vorschläge der PKK ist, ist unbestritt­en. Ihre Macher sehen sie allerdings als Kanal des Austausche­s. „Wir Kurden werden doch sonst nur als Terroriste­n in den Medien dargestell­t“, sagt Journalist Ahmet Birsin. „Deswegen sind wir ein unentbehrl­iches Medium, um zu zeigen, dass das kurdische Problem den Weg des Terrors verlässt und im Körper der zivilen demokratis­chen politische­n Institutio­nen existieren kann.“Nach dem Putschvers­uch gilt das mehr denn je.

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Foto: Ozan Kose, afp Can Dündars Kampf für die Pressefrei­heit in der Türkei sorgt auch in Deutschlan­d für Schlagzeil­en. Der Chefredakt­eur der regierungs­kritischen „Cumhuriyet“gilt als Staatsfein­d. Er wurde zu fast sechs Jahren Haft verurteilt, über die Berufung ist noch...

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