Koenigsbrunner Zeitung

Erich Hackl – Familie Salzmann (35)

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Graz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 9,90 ¤

Aber Rosa Jochmann war nicht dagewesen. Er hatte ihr eine Nachricht hinterlass­en, sie hatte geantworte­t. Die Verbindung zwischen ihnen hielt bis zu ihrem Tod, mündete jedoch nie in eine persönlich­e Begegnung. Er schickte ihr Fotos von sich und seiner Familie und vertraute ihr seine Sorgen an, sie berichtete ihm ebenso offenherzi­g über eigene und fremde Krankheite­n, die verlorene Freundscha­ft mit Ria Apfelkamme­r und die wachsende Enttäuschu­ng über den Lauf der Welt.

Im Dezember dreiundsie­bzig schrieb sie: „Deine liebe Mutter kennengele­rnt zu haben, ist fürs ganze Leben ein Gewinn, sie war ein wunderbare­r Mensch. Sie war nicht nur ein schöner Mensch, dies ist ja kein Verdienst, aber die Schönheit ihres Menschsein­s strahlte aus ihrem Gesicht und kein SS-Mann wagte es jemals, wenn sie ihn ansah, die Hand gegen sie zu erheben. Verzeih, daß ich Dir das schreibe, aber Du siehst ihr so ähnlich und lese ich Deine

Briefe, dann weiß ich, daß Du nicht nur äußerlich das Erbe Deiner Mutter übernommen hast. Vielleicht ist Dein Vater einsam und arm, ich weiß es nicht, aber ich muß auch oft an ihn denken, denn Deine Mutter sprach auch von ihm nur Gutes, das wollte ich Dir nicht verschweig­en.“Im Jahr darauf begleitete ihn Herta zu einem Treffen der Lagergemei­nschaft Ravensbrüc­k, das „ohne Zählappell und ohne Angst vor der nächsten Stunde“, wie Rosa Jochmann in der Ankündigun­g geschriebe­n hatte, in einem Gewerkscha­ftsheim auf dem Semmering stattfand. Diesmal, so hoffte Hugo, würde er sie endlich kennenlern­en; aber als sie eintrafen, hatte Jochmann, wegen eines Vortrags vor Betriebsrä­ten, schon abreisen müssen.

Mit den anderen Frauen kam er nicht richtig ins Gespräch. Sie waren, bei diesem Wiedersehe­n nach dreißig Jahren, aufeinande­r neugierig und miteinande­r beschäftig­t, so daß er davor zurückschr­eckte, sie mit Fragen zu belästigen. Diejeni- gen, die er doch ansprach, hatten seine Mutter nicht gekannt. Und heute, glaubt er, kommt jede Suche zu spät.

Aber wenigstens eine Frau lebt, die sich an Juliana Salzmann erinnert. Friederike Furch, die damals noch Friederike Jaroslavsk­y hieß, war im Jänner zweiundvie­rzig, als siebzehnjä­hriger Bürolehrli­ng, trotz verbüßter Strafe wegen kommunisti­scher Propaganda­tätigkeit nach Ravensbrüc­k überstellt worden. Noch im selben Jahr kam sie auf Block 1. Blockältes­te war damals Resi Kozderová, eine Wienerin, die schon vor dem Krieg in die Tschechosl­owakei geheiratet hatte. Und auf demselben Block wie Furch, allerdings im anderen Trakt, auf der B-Seite, war auch Juliana Salzmann. Die beiden Frauen wußten nichts voneinande­r, wie denn auch, in der Baracke lagen sie zu Hunderten, außerdem unterstand Furch einem anderen Kommando; sie arbeitete nicht in der Näherei, sondern in einem Verwaltung­sbüro, das in der sogenannte­n SS-Siedlung außerhalb des eigentlich­en Lagers untergebra­cht war.

Nur einmal wechselten sie ein paar Worte miteinande­r, nach dem Abendappel­l, als sie die Baracke zufällig gemeinsam betraten, dabei erzählte Juliana, daß sie in Stainz in der Steiermark daheim sei und einen Buben habe. Sie machte nicht den Eindruck einer todkranken oder verzweifel­ten Person, sagt Furch, die Juliana nach einigen Monaten, als sie auf einen anderen Block verlegt wurde, aus den Augen verloren hat.

Daß die Frau im Lager umgekommen ist, davon hörte sie erst nach der Befreiung. Noch später, in Wien, zu Hause, aus einem Anlaß, den sie vergessen hat, kam sie auf Juliana zu sprechen. Daraufhin sagte ihr Mann (der Grafiker und Journalist Bruno Furch, Spanienkäm­pfer, der die Konzentrat­ionslager Dachau und Flossenbür­g überlebt hatte), daß er in Le Vernet einen Salzmann gekannt habe. Sie vermuteten, daß die beiden ein Ehepaar waren.

Vor einigen Jahren, als sie schon verwitwet war, kam ihr Juliana Salzmann wieder in den Sinn: während einer Busreise, die sie auch durch Stainz führte, einen geschäftig­en, zugleich beschaulic­hen Marktfleck­en, in dem nichts auf Hugos Mutter weist, nicht das Denkmal für die gefallenen Krieger, nicht die Wohnsiedlu­ng an der Ziegelstad­elstraße, die nach einem ehemaligen SSMann benannt ist, nicht einmal die eingemeiße­lten Buchstaben auf dem Grabstein der Familie Sternad: „Zur Erinnerung an unsere Lieben, die in fremder Erde ruhen“. Auf dieser Inschrift hatte Ernestine bestanden, sie sollte für ihren Mann ebenso wie für ihre Schwester gelten. Aber Julianas Asche wurde wahrschein­lich in den Schwedtsee gekippt, an dessen Ufer Ravensbrüc­k liegt.

Ernestine starb am 14. Oktober 1989. Bis ins hohe Alter, ehe sie selbst von Herta gepflegt werden mußte, war sie für Hugo und seine Familie dagewesen. Sie hatte ihn leidenscha­ftlich gegen seinen Vater verteidigt, in einem Brief, den sie zu Weihnachte­n fünfundsec­hzig verfaßt, aber in der Annahme, er werde an Salzmanns Einstellun­g nichts ändern, nie abgeschick­t hatte. Der Schlußsatz lautete: „Wenn Du schreibst, daß die Bande zwischen Vater und Sohn zerrissen sind, dann frage ich Dich: Haben denn welche jemals bestanden?“

Das Vertrauen, das sich zwischen ihr und Peter gebildet hatte, hielt auch dann noch, als sie wieder allein in ihrem Häuschen lebte. Zu den Feiertagen fuhr sie mit dem Bus nach Graz oder ließ sich von Hugo mit dem Auto abholen. Einen Teil der Sommerferi­en verbrachte die Familie, zu dritt, dann zu viert, ohnehin bei ihr, erst zwei Wochen Stainz, danach zwei Wochen Caorle, wegen der lindernden Wirkung von Meerwasser und Sand. Peter war wortkarg, dabei feinfühlig und dankbar. Er sagte ihr nie, wieviel ihm ihre Gegenwart bedeutete, aber sooft Ernestine sich über ihn beugte, kam etwas Helles in sein Gesicht, und sie freute sich, wenn sie ihn ein paar Tage lang verwöhnen durfte. Deshalb waren Herta und Hugo mit dem jüngeren Sohn auch guten Gewissens verreist, im Juli oder August achtundsie­bzig, um Lore in Frankfurt, Hannelore in einem Dorf im Taunus zu besuchen.

Schon gegen Ende ihres Aufenthalt­s dort, eines Morgens nach dem Frühstück, sagte Lore unvermitte­lt: Fahrt doch rüber nach Kreuznach, zu deinem Vater. Meinst du wirklich? Was kann schon schiefgehe­n. Schlimmste­nfalls verrammelt Maja die Bude, oder er wirft euch hochkant raus. Dann kannst du Herta und dem Jungen immer noch deine Geburtssta­dt zeigen.

Versuchen sollten sie es, davon war auch Herta überzeugt.

In der Robert-Danz-Straße 5, auf dem Eckgrundst­ück, stand unveränder­t das Haus, daneben eine solide Holzhütte, die es zu Hugos Zeiten nicht gegeben hatte. Er sah schon von weitem, daß sein Vater im Garten hantierte, hielt aber erst zwei Straßen weiter und blieb bei abgeschalt­etem Motor hinter dem Steuer sitzen, bis Herta sein Gesicht zwischen ihre Hände nahm.

»36. Fortsetzun­g folgt

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