Wahlkampf mitten im Revier
Wie Ministerpräsident Binali Yildirim seine Landsleute in Deutschland auf die neuen Machtbefugnisse für Staatschef Erdogan einschwört. Und was junge Türken dazu sagen
Oberhausen Sie schwenken TürkeiFahnen, tragen Erdogan-Schals und jubeln jedes Mal, wenn der Name des Staatspräsidenten fällt. Mehr als 10 000 Türken hören am Samstag mitten im Ruhrgebiet einer Rede des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim zu. Bei der Veranstaltung der türkischen Regierungspartei AKP wirbt Yildirim vor allem für die geplante Verfassungsreform hin zu einem Präsidialsystem in der Türkei. Am 16. April wird darüber abgestimmt.
Die in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken werden heiß umworben – denn bei der Volksabstimmung könnten sie eine wichtige Rolle spielen. Viele Familien haben sich auf den Weg nach Oberhausen gemacht. Lautstarke Vorredner des Ministerpräsidenten heizen die Stimmung an. Über der Bühne hängt ein großes Plakat mit dem Bild Yildirims und den Fahnen der Türkei, Deutschlands und Europas. Darüber die Konterfeis von Staatsgründer Kemal Atatürk, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Yildirim selbst. Und überall der Schriftzug „Memleket sevdalilar evet diyor“(Wer sein Land liebt, sagt Ja).
Das vorgesehene Präsidialsystem würde Erdogan deutlich mehr Machtbefugnisse einräumen und das Parlament schwächen. Mit der Veranstaltung in Oberhausen wollte die AKP ihre zahlreichen Wähler im Ausland mobilisieren, die ebenfalls abstimmen können – in Deutschland sind es allein etwa 1,41 Millionen.
„Seid ihr für eine große Türkei? Eine starke Türkei? Für Stabilität, Ruhe und Frieden?“, fragt Yildirim die Menge. „Dann gebt eine Antwort, die ganz Europa, die ganze Welt hören kann!“Und er kündigt an, auch Erdogan wolle demnächst in der EU für die Reform werben.
Vor der Halle steht eine junge Mutter aus Salzgitter und erklärt, warum sie für das Präsidialsystem ist: „Damit es weitergeht, damit die Türkei wieder ganz oben steht“, sagt sie. Sie werde mit „Evet“stimmen, „Ja“. Deutschland entwickle sich nicht weiter und diskriminiere die Muslime. Sie wolle daher schon bald in die Türkei ziehen – dort gebe es mehr Religionsfreiheit.
Drei junge Männer sind ebenfalls begeistert: „Gänsehaut, Emotion, ein tolles Gefühl, da drin zu sein“, sagen sie nach der einstündigen Rede Yildirims. „Man hat so ein Heimatgefühl gehabt“, sagt einer der drei. Erdogan sei gut, weil er in der Türkei fast alles verbessert habe. Für die vielen Verhaftungen äußern sie Verständnis: „Es ist ja normal, dass nach einem Putsch richtig aufgeräumt wird.“
Passanten nehmen Notiz von der Veranstaltung. „Ich frage mich, was Erdogan sagen würde, wenn Angela Merkel in der Türkei Wahlkampf betreiben würde“, sagt eine 32-Jährige aus Kassel. Ein 60 Jahre alter Mann aus Oberhausen aber meint: „Wir sind ein liberales Land. Wir haben eine Rechtsordnung, die solche Auftritte möglich macht.“Toleranz sei geboten. Dazu gehöre aber auch die Möglichkeit, dagegen zu demonstrieren. Das machen auch rund 750 Menschen – friedlich.
Helge Toben, dpa