Als sich die Stadt die Bildung eroberte
Bis zum Ende des Mittelalters hatte die Kirche das Regiment über die Schulen. Mit der Reformation gründete Augsburg sein eigenes Gymnasium – und daneben die Bibliothek
Als der Augustinermönch Martin Luther 1517 zu Wittenberg seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel publizierte, blieb sein Protest in der Kaufmannsstadt Augsburg nicht ohne Widerhall. Im Jahr 1518 hatte sich Luther dann auch hier auf dem Reichstag für seine Aufsässigkeit zu rechtfertigen. Unsere neue Serie, immer dienstags an dieser Stelle, verfolgt Luthers Spuren in Augsburg. Der erste Lehrplan ist nicht überliefert, auch kein Gründungsdatum. Völlig unspektakulär trat das Gymnasium bei St. Anna im Jahr 1531 zwischen dem 14. Oktober und dem 5. Dezember ins Leben, während die Nürnberger ihr neues Egidiengymnasium 1526 groß feierten. Und doch war es ein entscheidender Schritt der Augsburger Bürger, ihr Bildungswesen in der Reformationszeit von der kirchlichen Aufsicht zu emanzipieren.
Der Rat ging gewissermaßen auf Zehenspitzen vor, um die Altgläubigen nicht zu reizen. Immerhin bedeutete die Gründung einer städtischen Lateinschule einen empfindlichen politischen Eingriff in die alten Stifts- und Klosterschulen beim Dom, St. Ulrich, St. Moritz, Heilig Kreuz und St. Georg. Denn sie hatten bislang das Monopol auf die Vermittlung der „sieben Künste“.
klug schickte der Rat zwei einflussreiche progressive Akteure vor, um das Projekt mit Überzeugungskraft durchzusetzen: den Prediger Bonifatius Wolfart von St. Anna und den Stadtarzt Dr. Gereon Sailer. Einen „reformationspolitischen Schachzug“nennt der Historiker Rolf Kießling das Vorgehen, das vordergründig aussah wie eine Initiative einzelner Gelehrter, um im Geiste der Zeit das humanistische Bildungsideal zu realisieren. Denn wer die Jugend im Denken formte, der konnte die Gesellschaft gestalten. Der Straßburger Bildungsreformer Johannes Sturm, an dem sich die Augsburger orientierten, formulierte als Idealziel die „sapiens atque eloquens pietas“, die weise und beredte Frömmigkeit. Neben den alten Sprachen, Mathematik und Grammatik bestand der Unterricht wesentlich aus dem Katechismus.
Eine Bildungsrepublik entstand in Augsburg freilich nicht. „In städtischen Führungsämtern, in Rat und Gericht spielte die akademische Bildung als Qualifikationsmerkmal noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber der Herkunft“, schreibt Kießling. Und die neue städtische Schulaufsicht drängTaktisch te darauf, auch schwach begabte Schüler mitzuziehen und auf Kinder reicher Eltern einzugehen, die lediglich auf das Handelsgeschäft vorbereitet werden sollten. Verdrossen begrub deshalb Hieronymus Wolf, der Griechischlehrer und spätere Rektor, alle Pläne, das St.-AnnaGymnasium zur Hohen Schule weiterzuentwickeln: „Dass für eine Akademie für eine Stadt kein Platz sei, die in erster Linie auf Geld und Vergnügen aus ist, habe ich natürlich vorausgesehen.“
Stolz sein durfte Wolf dagegen auf die wissenschaftliche Errungenschaft im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gymnasium: die 1537 gegründete Stadtbibliothek. Die „newe Liberey“ergab sich fast von selbst, denn es galt, die Bücher aus den aufgrund der Reformation aufgelösten Bettelklöstern zu sammeln. Deren Mönche waren entweder übergetreten, oder sie wurden ausgewiesen. Und weil schon 1531 der Rat die neue Lateinschule bei St. Anna gegründet hatte, traf es sich gut, deren Direktor Sixt Birk auch zum Bibliotheksleiter zu ernennen. Auf dass in Augsburg „gelehrte und redegewandte“junge Bürger aufwüchsen, denn so lautete das Ideal.
Eine entscheidende Änderung von Selbstverständnis und Verfassung der Reichsstadt hatte sich abgespielt: Mit einer Kirchenordnung hatte der Rat im Juli 1537 eine neue Einheit von Stadt und Kirche geschaffen. Die Autorität der Bürgerschaft im Politischen beanspruchte nun auch das Regiment in den Pfarreien und Klöstern – damit den Zugriff auf ihr exklusives Bildungsgut.