Spaziergang durch eine Sinfonie
Warum jetzt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in das Lenbachhaus einzieht
München Augen zu und eintauchen in ein Meer von Tönen – so stellt man sich den perfekten Musikgenuss vor. Für Ari Benjamin Meyers ist das nur die halbe Wahrheit. „Die Schallplatte gaukelt uns da seit Jahrzehnten etwas vor“, sagt er, „aber Musik geht weit übers Hören hinaus.“Deshalb treibt den Komponisten vor allem eine Frage um: Wie zeigt man das? Oder besser: Wie stellt man Musik aus?
Meyers Lösung: der Kunstraum. Für das Münchner Lenbachhaus hat der 45-jährige Amerikaner eine performative Installation entwickelt, die das gesamte Museum einnehmen soll – das ist am kommenden Wochenende der Höhepunkt des Münchner Kunstarealfests. Ausführen wird ihn das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Zeitgenössisches ist zwar längst Alltag des Spitzenensembles, doch jetzt betreten die Musiker Neuland. Mit der Partitur hat das nichts zu tun; Meyers verlangt weder komplizierte Tonsprünge noch vertrackte Rhythmuswechsel. Stattdessen sollen sich 80 Orchestermitglieder per Handlungsanweisung, doch ohne Dirigent, in einer mehr oder weniger lockeren Choreografie im Raum bewegen – und von einem Saal zum nächsten. Wie das dann mit den Noten als „Gedächtnishilfen“funktionieren soll, ist noch nicht ganz geklärt. Die Marschgabel der Blaskapellen wäre eine bodenständig praktische Lösung. Auch die große Trommel bietet, um den Bauch geschnallt, ein gut einsehbares Pult und könnte auf diese Weise problemlos durchs Haus wandern. Mit dem Rest des Schlagwerks dürfte es dagegen schwierig werden. Genauso brauchen Bass und Cello die Fixierung am Boden. Zudem hat jeder Bereich eine andere Akustik, und wer die ehemalige Künstlervilla am Königsplatz kennt, weiß um die vielen kleineren Kabinette. Nicht nur das Blech kann da leicht übers Erträgliche hinaus dröhnen. Meyers Experiment setzt eine ausgetüftelte Logistik voraus.
Wie das alles mit der Kunst zusammengeht? „Die habe ich mir genau angesehen“, erklärt Meyers: „Was Sie am Sonntag hören, wird kein Kommentar zu einzelnen Werken sein“– wie etwa Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Aber vielleicht ist das nur eine Frage der Fantasie des einzelnen Besuchers.
Die fürs Lenbachhaus so prägenden Maler des Blauen Reiter waren an neuen Tönen stark interessiert; Wassily Kandinsky versuchte sich mit seiner 1912 veröffentlichten Bühnenkomposition „Der gelbe Klang“an einer abstrakten Synthese von Musik, Farbe und Tanz. Damit ist die Städtische Galerie der ideale Ort für Meyers „Symphony 80“.
Vier Stunden soll sie dauern und Einblicke ins Innere einer Orchestermaschinerie gewähren. Zugleich verlässt sich Meyers auf die Initiative der Musiker, die in Tuchfühlung mit ihrem Publikum gehen und sich als Individuen präsentieren sollen. Das beginnt schon damit, dass sich jeder mit seinem Instrument erst einmal im Foyer vorstellt, um dann weiterzuziehen – bis sich das Haus in eine koordinierte überdimensionale Klangskulptur verwandelt hat. „Die Besucher können dann durch eine Sinfonie spazieren“, kündigt Meyers an. Und damit bietet der an der New Yorker Juilliard School ausgebildete Pianist und Dirigent genau das, was ihm selbst immer gefehlt hat: das visuelle und das körperliche Erleben.
Meyers, der seit 20 Jahren in Berlin lebt, ist weltweit gefragt. Künstler wie Tino Sehgal, Dominique Gonzalez-Foerster und Anri Sala binden ihn seit Jahren in ihre performativen Arbeiten ein. Und für den Theaterregisseur Ulrich Rasche gehören Meyers repetitive Klänge ebenfalls zum elementaren Bestandteil seiner Inszenierungen – zuletzt in Schillers „Räuber“am Münchner Residenztheater. Fast immer sind es die darstellenden und bildenden Künstler, die auf den Komponisten zukommen. Schön, wenn nun auch die Musik in Bewegung gerät. Aufführung Lenbachhaus München, Luisenstraße 33, Sonntag, 25. Juni 2017, 16 bis 20 Uhr.