„Rockodiles“zeigen keine Berührungsängste
Seit 30 Jahren trainiert Richard Wieser am Gymnasium in Weißenhorn Rock ’n’ Roll. Seine Schüler treten erfolgreich bei internationalen Turnieren an. Dabei hatte es der Lehrer mit seinem Lieblingstanz nicht immer leicht an der Schule
Weißenhorn In der Doppelturnhalle des Gymnasiums Weißenhorn im Landkreis Neu-Ulm geht es zu wie auf dem Pausenhof. Dem Vormittag voller Unterricht folgt ausgelassene Stimmung. Buben spielen Fangen, Mädels stehen kichernd zusammen. Dann kommt einer, der auf Knopfdruck für Disziplin sorgt. Lehrer Richard Wieser geht zur Musikanlage, drückt auf „Play“und zählt vor: „Fünf, sechs, sieben, acht …“Schlagartig stellen sich die Schüler aus dem Gewusel in Reihen auf und tanzen synchron die Choreografie: „Links hoch links, rechts hoch rechts“, ruft Wieser ihnen zu. Inmitten der Schüler macht er die Bewegungen mit, er ist Dirigent und Motivator zugleich.
Insgesamt 48 Schüler aus den siebten Klassen des Gymnasiums Weißenhorn beginnen wie jeden Mittwochnachmittag um kurz nach halb zwei mit dem Rock-’n’-Roll-Training. Für das Wahlfach und Hobby bleiben sie freiwillig länger an der Schule. Die Siebtklässler sind die jüngsten aller Tänzer an der Schule, im September vergangenen Jahres hat Trainer Wieser ihnen zum ersten Mal den Rock ’n’ Roll gezeigt. „Die Mädels kommen meistens von sich aus“, sagt Wieser. Manchmal bringen sie gleich einen Buben als Tanzpartner mit – oder ihre beste Freundin, die die Führung übernimmt.
Um gut miteinander zu tanzen, bedürfe es einer gewissen Portion Vertrauen, betont Lorena Egner. Die 13-Jährige erklärt: „Man muss locker sein, um Rock ’n’ Roll zu tanzen. Ich darf zum Beispiel nicht erst darüber nachdenken, ob ich bei einer Figur mal den anderen berühre oder nicht.“Am Anfang sei das für sie etwas gewöhnungsbedürftig gewesen, sagt Lorena, „aber meine Partnerin und ich kennen uns schon ziemlich gut aus der Klasse“.
Auch Colin Ruf tanzt mit einer guten Freundin aus seiner Klasse. Zwar ist sie einen Kopf größer als er, doch bei Hebefiguren macht der 13-Jährige das mit Körperspannung wett. Mit jedem Takt wird sein Lächeln breiter, Rock ’n’ Roll mache ihm gute Laune, sagt er. „Das Lachen kommt von alleine.“Manchmal passieren beim Tanzen lustige Dinge, verrät er: „Da muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu viel zu lachen.“
Ein paar Mal lässt Trainer Wieser seine Schüler die Choreografie tanzen, dann übt er mit ihnen Hebefiguren. Von der Empore dringen nun Pfiffe und Rufe in die Halle, ein paar Buben sehen der Tanzgruppe zu und reißen Witze. Sportlehrer Wieser kennt die Situation. „Die sind immer neugierig, weil sie den Mädchen beim Tanzen zuschauen möchten. Aber selbst tanzen wollen sie dann auch wieder nicht“, spottet er.
Dabei wären die Buben beim Rock ’n’ Roll höchst willkommen. Von der siebten bis zur zwölften Klasse gibt es in jeder Gruppe einen Damenüberschuss. Insgesamt trainiert Wieser 240 Schüler in sieben Gruppen. Er sagt: „Die Jungs zieren sich, wenn es ums Tanzen geht.“Das sei schon immer so gewesen. Auch, als er vor 30 Jahren den Rock ’n’ Roll zu den Schülern an das Gymnasium in Weißenhorn gebracht hat.
Doch Probleme hatte Wieser als junger Lehrer im Jahr 1987 andere. Ausgebildet für die Fächer Geographie, Wirtschaft und Sport, war er in Weißenhorn zunächst nur für das Fach Wirtschaft eingeteilt. „Dabei wollte ich unbedingt Sport lehren.“Schon während seines Studiums in München hatte Wieser sich für Tanzsport begeistert und sich vorgenommen, die Leidenschaft weiterzugeben. In Weißenhorn schlug er dem damaligen Schulleiter einen Wahlkurs Rock ’n’ Roll vor, der lehnte aber strikt ab, erinnert sich Wieser: „Es muss an der Zeit gelegen haben: Der Tanz war verrufen, er galt sogar als gefährlich und es hieß, er bringe Schüler auf schlechte Gedanken.“Wieser ließ nicht locker. Er machte einen Aushang in der Schule und bot gegen alle Widerstände seinen Rock’n’-Roll-Kurs an. 1988 trat er mit Schülern in Stuttgart auf. Weil ein Deko-Krokodil zum Maskottchen der Rock ’n’ Roller wurde, taufte Wieser die Gruppen auf den Namen „Rockodiles“, der sich aus Rock ’n’ Roll und dem englischen Wort crocodile zusammensetzt.
Längst hat sich der Tanz am Gymnasium Weißenhorn durchgesetzt. Wieser fährt mit seinen Schülern zu etlichen Wettkämpfen. Das Highlight ist für die „Rockodiles“jedes Jahr ein internationales Sportfestival auf Gran Canaria. Siebtklässler träumen davon, Erfolgen älterer Schüler nacheifern zu können. Ob das über das kommende Schuljahr hinaus möglich ist, bleibt unklar. Wieser geht im Februar in den Ruhestand, ein Nachfolger wird noch gesucht.