Sie lernen, wie der andere tickt
An der Mittelschule Süd arbeiten eine Klasse der Brunnenschule und eine reguläre sechste Klasse zusammen. Die Kooperation hat sich über drei Jahre entwickelt und die Lehrer wollen, dass aus einem Projekt eine Selbstverständlichkeit wird
Königsbrunn Es könnte ein Bild mit Symbolkraft sein: Die Verbindungstür zwischen dem Klassenzimmer der Brunnenschüler in der Mittelschule Süd und ihrer Kooperationsklasse ist durch einen schweren Computerschrank blockiert und somit unbenutzbar. Doch mit Symbolik haben es Konrektorin Dagmar Böhm-Lachmann und Förderschullehrer Nico Seebauer nicht so. Statt an symbolischen Akten zu arbeiten, wollen sie das Miteinander von (lern-)behinderten und nicht behinderten Kindern voranbringen, das oft benutzte Schlagwort „Inklusion“mit Leben erfüllen. Mit dem Stand der Dinge an ihrer Schule sind sie schon recht zufrieden.
Dass ihre beiden Klassen zusammenwachsen, merkte man erstmals an Beschwerden, sagt Dagmar Böhm-Lachmann: „Am Anfang hieß es immer: ’Der Brunnenschüler hat etwas gemacht’. Aber irgendwann hatten die ’Brunnenschüler’ Namen.“Und bei Beschwerden hat es nicht aufgehört. Mittlerweile sind zwischen den Schülern Freundschaften entstanden: „Wir waren wirklich überrascht, als wir mitbekommen haben, dass es eine WhatsApp-Gruppe gibt, in der sich die Kinder fürs Kino oder zum Spielen verabreden“, sagt Nico Seebauer. Damit hätten die Kinder die Erwartungen der Lehrer sogar übertroffen.
Denn die beiden Lehrer wollen versuchen, an der Schule ihr Verständnis von Inklusion umzusetzen. Und das ist eben nicht „nur“die akzeptierte Teilnahme am Unterricht: „Inklusion heißt für uns Dabeisein ohne Unterschiede und Vorbehalte“, sagt Nico Seebauer. Dazu gehöre auch ein Verständnis, dass bei den anderen Kindern Stärken und Schwächen unterschiedlich ausgeprägt sind. Das beginnt dabei, dass die Brunnenschüler oft körperlich weiter und daher gut im Sport sind. Waren sie anfangs noch die Letzten, die bei der Teamwahl ausgewählt wurden, sind sie nun selbst Mannschaftsführer.
In Musik waren die Unterschiede von Anfang an am geringsten. Daher wurde die Zusammenarbeit im ersten Jahr in diesen Fächern begründet. Im zweiten Jahr kamen Geschichte/Sozialkunde/Erdkunde (GSE) und Teile des Matheunterrichts dazu. Und nun arbeiten die Schüler auch in Deutsch und Physik/Chemie/Biologie zusammen. Letzteres sei der große Verdienst von Lehrerin Viktoria Allgayer, sagt Nico Seebauer: „Das Fach gibt es an der Brunnenschule so gar nicht. Aber sie hat viel Vorbereitungszeit investiert und es über Versuche und handlungsorientiertes Lernen geschafft, alle Schüler mitzunehmen.“
Die Jugendlichen auf beiden Seiten profitierten von der Kooperation. Die Brunnenschüler werden an kognitiv anspruchsvolle Lehrpläne herangeführt, die es an der Förderschule so nicht gibt, sagt Seebauer. Gleichzeitig bringt das gemeinsame Lernen auch Selbstbewusstsein. Zum Beispiel beim Lesen: Die Schüler arbeiten einmal pro Woche in Tandems zusammen. „Eigentlich sollen die Mittelschüler Kontrolleure und Motivatoren sein. Teils ist das aber schon umgekehrt. Die Brunnenschüler haben zwei Jahre mehr Schulerfahrung, da sind die Unterschiede kleiner“, sagt Dagmar Böhm-Lachmann. Auch als Streitschlichter tun sich einige der Förderschüler hervor.
Für die Sechstklässler der Mittelschule bedeutet die Kooperation auch, neue Kompetenzen zu lernen, sagt Nico Seebauer: „Meine Kinder leben ihre Emotionen ungeschminkt aus. Die Mittelschüler waren anfangs irritiert, aber mittlerweile wissen sie, wie sie damit umgehen müssen. Dadurch legen sie auch Masken ab, entwickeln ein anderes Feingefühl und agieren auf einer ganz neuen Ebene miteinander.“Und auf dieser Ebene entstehen dann auch ganz selbstverständlich Freundschaften unter den Jugendlichen.
Ein großes Ziel beider ist auch, Kollegen die Angst vor dem Aufwand und der Verantwortung der Arbeit mit behinderten Schülern zu nehmen. Dagmar Böhm-Lachmann ist deshalb auch als Beraterin bei der Beratungsstelle Inklusion des Landkreises aktiv.
Der Arbeitseinsatz sei aber schwer zu beziffern, sagt sie. Für besondere Projekte investiere man schon zehn, zwölf Stunden am Wochenende, um das Material auf die Kinder zuzuschneiden. Im Alltag sei der Aufwand geringer: „Das liegt auch daran, dass wir in vielen Dingen gleich ticken. Wir müssen uns nicht groß absprechen und sind beide sehr flexibel“, sagt Nico Seebauer. So wird den Lehrer nur bei einem Punkt das Herz etwas schwer. Die Dauer des Projekts ist begrenzt, nach dem Schuljahr bekommen die Mittelschüler neue Lehrer, einige wechseln in den M-Zweig. Dagmar Böhm-Lachmann und Nico Seebauer sind sich einig: „Wir werden die Kinder vermissen.“Andererseits haben beide in den vergangenen drei Jahren viele Erfahrungen und Ideen für neue Unterrichtsansätze gesammelt.
Bevor es an die Trennung geht, wurde aber noch ein gemeinsames Projekt enthüllt. Beim „Königsbrunner Projekt“haben die Kinder fünf Epochen der Weltgeschichte erarbeitet und zeittypische Uhren gestaltet. So orientierten sich die Steinzeitmenschen am Sonnenstand und die Ägypter maßen die Zeit mit einer Sanduhr. Im Mittelalter ließen die Menschen eine Kerze abbrennen und erst seit dem 17. Jahrhundert gibt es Uhren mit Minuten- und Stundenzeiger, wie sie heute üblich sind. Aus all diesen Uhren wurde nun eine große Schuluhr für die Mittelschule Süd, die zeigen soll: „Wir sind eins.“
Diesem Credo soll nichts im Wege stehen – auch keine Computerschränke, die symbolträchtig Türen blockieren: „Wir gehen halt einfach außen herum“, sagt Dagmar Böhm-Lachmann.