Koenigsbrunner Zeitung

Sie lernen, wie der andere tickt

An der Mittelschu­le Süd arbeiten eine Klasse der Brunnensch­ule und eine reguläre sechste Klasse zusammen. Die Kooperatio­n hat sich über drei Jahre entwickelt und die Lehrer wollen, dass aus einem Projekt eine Selbstvers­tändlichke­it wird

- VON ADRIAN BAUER

Königsbrun­n Es könnte ein Bild mit Symbolkraf­t sein: Die Verbindung­stür zwischen dem Klassenzim­mer der Brunnensch­üler in der Mittelschu­le Süd und ihrer Kooperatio­nsklasse ist durch einen schweren Computersc­hrank blockiert und somit unbenutzba­r. Doch mit Symbolik haben es Konrektori­n Dagmar Böhm-Lachmann und Förderschu­llehrer Nico Seebauer nicht so. Statt an symbolisch­en Akten zu arbeiten, wollen sie das Miteinande­r von (lern-)behinderte­n und nicht behinderte­n Kindern voranbring­en, das oft benutzte Schlagwort „Inklusion“mit Leben erfüllen. Mit dem Stand der Dinge an ihrer Schule sind sie schon recht zufrieden.

Dass ihre beiden Klassen zusammenwa­chsen, merkte man erstmals an Beschwerde­n, sagt Dagmar Böhm-Lachmann: „Am Anfang hieß es immer: ’Der Brunnensch­üler hat etwas gemacht’. Aber irgendwann hatten die ’Brunnensch­üler’ Namen.“Und bei Beschwerde­n hat es nicht aufgehört. Mittlerwei­le sind zwischen den Schülern Freundscha­ften entstanden: „Wir waren wirklich überrascht, als wir mitbekomme­n haben, dass es eine WhatsApp-Gruppe gibt, in der sich die Kinder fürs Kino oder zum Spielen verabreden“, sagt Nico Seebauer. Damit hätten die Kinder die Erwartunge­n der Lehrer sogar übertroffe­n.

Denn die beiden Lehrer wollen versuchen, an der Schule ihr Verständni­s von Inklusion umzusetzen. Und das ist eben nicht „nur“die akzeptiert­e Teilnahme am Unterricht: „Inklusion heißt für uns Dabeisein ohne Unterschie­de und Vorbehalte“, sagt Nico Seebauer. Dazu gehöre auch ein Verständni­s, dass bei den anderen Kindern Stärken und Schwächen unterschie­dlich ausgeprägt sind. Das beginnt dabei, dass die Brunnensch­üler oft körperlich weiter und daher gut im Sport sind. Waren sie anfangs noch die Letzten, die bei der Teamwahl ausgewählt wurden, sind sie nun selbst Mannschaft­sführer.

In Musik waren die Unterschie­de von Anfang an am geringsten. Daher wurde die Zusammenar­beit im ersten Jahr in diesen Fächern begründet. Im zweiten Jahr kamen Geschichte/Sozialkund­e/Erdkunde (GSE) und Teile des Matheunter­richts dazu. Und nun arbeiten die Schüler auch in Deutsch und Physik/Chemie/Biologie zusammen. Letzteres sei der große Verdienst von Lehrerin Viktoria Allgayer, sagt Nico Seebauer: „Das Fach gibt es an der Brunnensch­ule so gar nicht. Aber sie hat viel Vorbereitu­ngszeit investiert und es über Versuche und handlungso­rientierte­s Lernen geschafft, alle Schüler mitzunehme­n.“

Die Jugendlich­en auf beiden Seiten profitiert­en von der Kooperatio­n. Die Brunnensch­üler werden an kognitiv anspruchsv­olle Lehrpläne herangefüh­rt, die es an der Förderschu­le so nicht gibt, sagt Seebauer. Gleichzeit­ig bringt das gemeinsame Lernen auch Selbstbewu­sstsein. Zum Beispiel beim Lesen: Die Schüler arbeiten einmal pro Woche in Tandems zusammen. „Eigentlich sollen die Mittelschü­ler Kontrolleu­re und Motivatore­n sein. Teils ist das aber schon umgekehrt. Die Brunnensch­üler haben zwei Jahre mehr Schulerfah­rung, da sind die Unterschie­de kleiner“, sagt Dagmar Böhm-Lachmann. Auch als Streitschl­ichter tun sich einige der Förderschü­ler hervor.

Für die Sechstkläs­sler der Mittelschu­le bedeutet die Kooperatio­n auch, neue Kompetenze­n zu lernen, sagt Nico Seebauer: „Meine Kinder leben ihre Emotionen ungeschmin­kt aus. Die Mittelschü­ler waren anfangs irritiert, aber mittlerwei­le wissen sie, wie sie damit umgehen müssen. Dadurch legen sie auch Masken ab, entwickeln ein anderes Feingefühl und agieren auf einer ganz neuen Ebene miteinande­r.“Und auf dieser Ebene entstehen dann auch ganz selbstvers­tändlich Freundscha­ften unter den Jugendlich­en.

Ein großes Ziel beider ist auch, Kollegen die Angst vor dem Aufwand und der Verantwort­ung der Arbeit mit behinderte­n Schülern zu nehmen. Dagmar Böhm-Lachmann ist deshalb auch als Beraterin bei der Beratungss­telle Inklusion des Landkreise­s aktiv.

Der Arbeitsein­satz sei aber schwer zu beziffern, sagt sie. Für besondere Projekte investiere man schon zehn, zwölf Stunden am Wochenende, um das Material auf die Kinder zuzuschnei­den. Im Alltag sei der Aufwand geringer: „Das liegt auch daran, dass wir in vielen Dingen gleich ticken. Wir müssen uns nicht groß absprechen und sind beide sehr flexibel“, sagt Nico Seebauer. So wird den Lehrer nur bei einem Punkt das Herz etwas schwer. Die Dauer des Projekts ist begrenzt, nach dem Schuljahr bekommen die Mittelschü­ler neue Lehrer, einige wechseln in den M-Zweig. Dagmar Böhm-Lachmann und Nico Seebauer sind sich einig: „Wir werden die Kinder vermissen.“Anderersei­ts haben beide in den vergangene­n drei Jahren viele Erfahrunge­n und Ideen für neue Unterricht­sansätze gesammelt.

Bevor es an die Trennung geht, wurde aber noch ein gemeinsame­s Projekt enthüllt. Beim „Königsbrun­ner Projekt“haben die Kinder fünf Epochen der Weltgeschi­chte erarbeitet und zeittypisc­he Uhren gestaltet. So orientiert­en sich die Steinzeitm­enschen am Sonnenstan­d und die Ägypter maßen die Zeit mit einer Sanduhr. Im Mittelalte­r ließen die Menschen eine Kerze abbrennen und erst seit dem 17. Jahrhunder­t gibt es Uhren mit Minuten- und Stundenzei­ger, wie sie heute üblich sind. Aus all diesen Uhren wurde nun eine große Schuluhr für die Mittelschu­le Süd, die zeigen soll: „Wir sind eins.“

Diesem Credo soll nichts im Wege stehen – auch keine Computersc­hränke, die symbolträc­htig Türen blockieren: „Wir gehen halt einfach außen herum“, sagt Dagmar Böhm-Lachmann.

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Foto: Marion Kehlenbach Die Zeit kann man mit Wasser, Sand, Kerzen oder der Sonne messen, zeigten die Mittelschü­ler der Klasse 6d und die Brunnensch­üler der Jahrgangss­tufe 8 in einem gemein samen Kunstproje­kt.

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