Angela Merkel, die Königin von Auenland
Leitartikel Die Kanzlerin ist einfach da, schwer zu greifen und manchmal dafür und dagegen zugleich. Plätschert der Wahlkampf deshalb so müde vor sich hin?
Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch. Als Angela Merkel im Wahlkampf 2009 jede Kontroverse vermeidet und ihren Kontrahenten Frank-Walter Steinmeier mit Nichtbeachtung straft, ist für die SPD schnell klar: Mit dieser Einschläferungstaktik, im Polit-Sprech asymmetrische Demobilisierung genannt, kommt sie nicht noch einmal durch. Vier Jahre später aber tappt Peer Steinbrück in die gleiche Falle: Am Ende übernimmt die Kanzlerin sogar noch eine sozialdemokratische Idee wie die Mietpreisbremse in ihr Programm, als wäre die CDU die bessere SPD.
Martin Schulz geht es nun wie Steinbrück und Steinmeier. In einem Wahlkampf, dem alles Kämpferische fehlt, bekommt er seine Gegnerin nicht zu fassen. Sein Versuch, die Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle zum Thema zu machen, ist versandet. Seine Popularitätswerte liegen noch immer gefühlte Lichtjahre hinter ihren – und da er mit der Linken nicht koaliert, scheidet Rot-Rot-Grün als strategische Option aus. Angela Merkels Kalkül geht so vermutlich ein drittes Mal auf: ruhig bleiben, abwarten, nur ja keine Angriffsfläche bieten. Oder, frei nach Konrad Adenauer: keine Experimente.
Es ist paradox. Obwohl Deutschland mit der Integration von hunderttausenden von Flüchtlingen und der Begrenzung der künftigen Zuwanderung eine Jahrhundertaufgabe zu meistern hat, obwohl auch Deutschland längst ins Visier des Terrors gerückt und die Ausländerkriminalität messbar gestiegen ist, plätschert der Wahlkampf so friedlich wie ein kleiner Gebirgsbach vor sich hin. Ihm fehlt nicht nur die Leidenschaft früherer Auseinandersetzungen, sondern auch die Entschlossenheit, die Kandidaten wie Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber ausstrahlten, als sie Anlauf aufs Kanzleramt nahmen. Der Bruch der rot-grünen Koalition in Niedersachsen? Abgehakt. Der Diesel-Skandal? Vor allem ein Problem der Industrie. Niedrigere Steuern, mehr Investitionen, eine auskömmliche Rente? Alles schon mal gehört. Aber ist das noch wichtig für eine Wahl, deren Ergebnis praktisch schon feststeht, nämlich eine vierte Amtszeit für Angela Merkel?
Es ist paradox. Martin Schulz kann sich mühen, sosehr er will, am Ende muss er vermutlich froh sein, wenn er nicht schlechter abschneidet als Steinbrück und Steinmeier. Eine Kanzlerin, der die Republik ihre Politik der offenen Grenzen offenbar verziehen hat, ein Kanzlerkandidat, dessen plötzliche Strahlkraft schon wieder verblasst ist, und das alles in einem Land, dem es gut geht wie lange nicht mehr: Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald hat für diesen Widerspruch aus saturierter Behaglichkeit und dem diffusen Unbehagen über die Zeitläufe den schaurigschönen Vergleich zwischen dem Auen- und dem Grauenland gefunden: Im Auenland, der Fantasiewelt aus J. R. R. Tolkiens Trilogie „Herr der Ringe“, fühlt der Wähler, das reformscheue Wesen, sich wohl und geborgen. Draußen, im Grauenland, herrschen Islamisten, der Terror, die Globalisierung und Recep Tayyip Erdogan.
Angela Merkel ist, wenn man so will, trotz gefallener Umfragewerte die Königin im Auenland und Martin Schulz eine Art Eindringling. Bei ihm wissen die Auenländer nicht so genau, was sie mit ihm bekämen. Bei ihr wissen sie ziemlich genau, was sie an ihr haben – und mit diesem Gefühl spielt die Kanzlerin auch im Wahlkampf. Sie ist einfach da, schwer zu greifen und manchmal sogar dafür und dagegen zugleich, wie zuletzt bei der Ehe für alle. Wenn viele Anhänger der SPD deshalb zu Hause bleiben, wie Martin Schulz fürchtet, ist das allerdings nicht Angela Merkels Problem, sondern das der SPD.
Schulz geht es wie Steinbrück und Steinmeier