Erdogans Menschenjagd muss ein Riegel vorgeschoben werden
Der türkische Präsident gebärdet sich immer autoritärer. Er verfolgt seine Gegner sogar im Ausland. Dagegen sollte Europa ein deutliches Zeichen setzen
Wie ein Krake angelt sich der türkische Staat Menschen, die dem Präsidenten oder dessen Partei nicht genehm sind, und sperrt sie ein. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ließ seit dem Sommer vorigen Jahres 50000 Personen ins Gefängnis werfen und 100 000 aus dem Staatsdienst entfernen. Nur wenige der Inhaftierten waren am gescheiterten Putsch vom Juli 2016 beteiligt. Die meisten wissen gar nicht, was ihnen vorgeworfen wird. Das sich immer autoritärer gebärdende Regime nutzt den Ausnahmezustand für eine systematische Verfolgung Andersdenkender. Dafür ist, obwohl historisch vorbelastet, die Bezeichnung „Säuberung“angebracht.
Betroffen sind Anhänger des Predigers Gülen, mit dem Erdogan früher selbst verbündet war und den er jetzt der Anstiftung zur Revolte bezichtigt. Ebenso Vertreter der kurdischen Interessen. Und alle kritischen Geister, vor allem Journalisten und Intellektuelle.
Erdogan genügt es dabei offenkundig nicht, das zarte Pflänzchen der Rechtsstaatlichkeit, das in der Türkei im Zuge des Annäherungsprozesses an die EU zu gedeihen begann, mit Stumpf und Stiel auszureißen. In seinem Wahn, tatsächliche oder vermeintliche Gegner jagen zu müssen, legt er sich sogar mit dem Ausland an. So sitzen neun deutsche Staatsbürger aus politischen Gründen in türkischen Gefängnissen, darunter die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu. Jetzt versuchte Ankara über Interpol, wenn auch zunächst vergeblich, den türkischstämmigen deutschen Schriftsteller Dogan Akhanli in Spanien festsetzen zu lassen.
Diese Menschenjagd muss gestoppt werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass hier ein Missbrauch internationaler Institutionen vorliegt. Interpol ist nicht dazu da, alte politische Rechnungen zu begleichen. Akhanli, der den in der Türkei offiziell geleugneten Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich aufzuarbeiten versucht, wurde einer Straftat bezichtigt und freigesprochen. Jetzt seine Auslieferung zu betreiben, ist der offenkundige Versuch, kritische Türken im Ausland einzuschüchtern.
Man ist versucht, Erdogan zuzurufen: „Beachten Sie Ihre Grenzen!“Der türkische Präsident ist in der Türkei gewählt, für Deutschland oder Spanien besitzt er keine Kompetenzen. Er ist auch nicht der Herr jener Türken, die Deutsche geworden sind. Sie davon abzuhalten, in der Bundesrepublik von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, ist eine freche Anmaßung.
„Beachten Sie Ihre Grenzen!“, sagte der mimosenhafte Erdogan, als ihn Bundesaußenminister Gabriel für diese Einmischung zurechtwies. Er meinte damit, der SPD-Politiker habe einen niedrigeren Rang und dürfe ihn nicht ansprechen. Wir aber sagen: „Weit gefehlt, Erdogan! Wenn Sie sich in fremde Angelegenheiten einmischen, hat jeder das Recht, Ihnen die Meinung zu sagen!“
Über der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Präsidenten, der die Türkei weg von Europa und weg von der Demokratie führt, darf das Land am Bosporus allerdings nicht mit diesem machthungrigen Politiker gleichgesetzt werden. Bei der Volksabstimmung über die Einführung des von Erdogan gewünschten Präsidialsystems stimmten im April immerhin 48,6 Prozent der Wähler mit Nein. Die Regierungspartei AKP brachte bei der letzten Wahl auch nur knapp die Hälfte der Wähler hinter sich. Die Türkei ist also kein hundertprozentiges Erdogan-Land. Das muss bei politischen Strafaktionen bedacht werden.
Aber mit dieser Regierung lohnt es sich nicht länger, über einen EU-Beitritt zu reden. Da sollten Europas Demokratien endlich ein deutliches Zeichen setzen.
Bei Wahlen erhält Erdogan nur die Hälfte der Stimmen