Lesen für alle
Das Erlanger Poetenfest zählt zu den ältesten und größten Literaturfestivals in Süddeutschland. Jahr für Jahr kommen rund 12 000 Besucher in die fränkische Stadt. Was die Menschen an einem Fest fasziniert, das eine Mischung aus Picknick, Familientreff und Literatur ist
Erlangen Etwas vorgelesen zu bekommen, bereitet großes Vergnügen. Nicht nur Kindern. Auch Erwachsenen. Vor allem, wenn es neue, wenn es spannende Literatur ist. Vor allem, wenn das Ambiente so schön ist wie im Erlanger Schlossgarten. Doch das allein ist es nicht, was das Poetenfest auszeichnet. Was es zu einem der ungewöhnlichsten Literaturfestivals in Süddeutschland macht, zu einem Sommerereignis. Es ist diese lockere Atmosphäre. Dieses Zwanglose. Diese bemerkenswerte Verbindung von Picknick, Familientreff und Literatur.
Eine geniale Verbindung. Das findet auch Katharina Egg. Die 19-Jährige sitzt zusammen mit ihrer Mutter auf einer Decke im Schlossgarten. Schattig ist das Plätzchen, das sie sich an diesem heißen Spätsommertag ausgesucht haben. Aber auch etwas weg von den großen Eichen, deren Früchte einem so hart auf den Kopf fallen können. Und nah an einem schwarzen Lautsprecher. Mutter und Tochter wissen genau, wo die idealen Stellen in diesem prachtvollen Park sind. Seit ihrem dritten Lebensjahr kommt Katharina hierher. Jedes Jahr. Immer am letzten Wochenende im August.
Von ihrer Decke aus muss sie sich nur umdrehen und kann auf den hinteren Teil des Parks blicken. Dorthin, wo die Bilderbuch-Lesewiese ist und das Mitmachzelt. Viele kleine Lesefans haben sich an diesem Samstag dort mit ihren Eltern versammelt. Katharina kennt das noch von früher. Nun ist sie ein Stück im Park vorgerückt. Näher an ein großes Podium, auf dem nur ein Tisch, ein Stuhl und zwei Mikrofone stehen. Das hier ist der Mittelpunkt dieses Wochenendes. Mittelpunkt des Erlanger Poetenfestes. Eines Literaturfestivals, das jährlich tausende Besucher anzieht, weit über die Stadtgrenzen hinaus.
Was sie alle wollen? Was sie alle genießen? Sie lassen sich vorlesen. Nichts Altes. Nichts Bekanntes. Nein, sie wollen neue Geschichten hören. Neue Gedichte. Neue Romane. Oft sind es sogar Debüts. Es sind Texte, die in fremde Welten entführen. Texte, die berühren. Texte, die brandaktuelle Themen wie Flucht und Ausgrenzung aufgreifen. Texte von Autoren, die aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, fern der Heimat neu anfangen zu müssen. Texte, die sich existenziellen Situationen wie Krankheit und Tod widmen. Texte von jungen Schriftstellern. Diesmal etwa von Theresia Enzensberger und Fatma Aydemir. Von Autoren, die längst im Internet mit ihren Arbeiten aktiv sind und dennoch die Wirkung dieser altbewährten Form der Literaturvermittlung, des Vorlesens, schätzen.
Es sind aber auch neue Texte sehr bekannter Autoren. Ingo Schulze etwa. Erst ein einziges Mal in Berlin, am Tag zuvor, hat er aus seinem neuen Roman „Peter Holtz: Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“vorgelesen. Nach Erlangen kommt er immer wieder. Eine „einzigartige Veranstaltung“sei das. Vor allem wegen der Lesungen im Park. Und wegen des kundigen Publikums. Auch der Kinderbuchautor und „Sams“-Erfinder Paul Maar ist hier. Er wird bald 80. Im Herbst erscheinen drei neue Bücher. In Erlangen findet der Franke bei Jung und Alt ein hingerissenes Publikum – auch nicht zum ersten Mal.
Mehr als 80 Schriftsteller, Kritiker und Publizisten nehmen im Schnitt am Erlanger Poetenfest teil. Etwa 12 000 Besucher hören zu. Wo sie herkommen, wird nicht immer neu erhoben. Doch es gibt einen, der das schon immer wissen wollte und noch vor ein paar Jahren Umfragen gemacht hat. Einer, der weiß, dass etwa ein Drittel der Besucher aus Erlangen kommt, ein weiteres Drittel aus dem Großraum und eines aus dem Rest der Bundesrepublik. Der sich besonders freut, dass das „älteste und größte Literaturfestival Süddeutschlands“so beliebt ist. Das ist Karl Manfred Fischer, der Erfinder des Poetenfestes.
Der Mann, der es 1980 zwar an einem anderen Ort in Erlangen, dem Burgberggarten, aber eben mit diesem Konzept ins Leben gerufen hat. Wer ihn sieht, wie er zusammen mit langjährigen Mitarbeiterin Lisa Puyplat auf der gut besuchten Terrasse eines Cafés sitzt, das direkt am Schlossgarten liegt, der sieht im Gesicht dieses so freundlichen Mannes einen zufriedenen Stolz. Hier freut sich einer sichtlich, dass das Wetter wieder einmal mitspielt. Dass sich der ganze Schlossgarten mit seiner Orangerie, seinen Brunnen, seinen wunderbaren Bäumen füllt. Mit Menschen jeden Alters.
Viele setzen sich einfach auf die zahlreichen Bierbänke unter den großen Sonnenschirmen, die vor dem Podium stehen. Viele haben aber auch wie Katharina Egg und ihre Mutter Decken mitgebracht und Proviant. Sie machen es sich im Gras gemütlich. Viele haben Klappstühle dabei. Drüben an einem Stand gibt es fränkische Bratwürste und vegetarische Kleinigkeiten. Während rund um das Hauptpodium konzentrierte Stille herrscht, wenn die Autoren lesen, wird im Rest des Parks geplaudert, gespielt, flaniert, geschlafen, es werden Hunde spazieren geführt oder auf einem Band, einer Slackline, zwischen Bäumen balanciert.
Die pure Sommeridylle. Jeder kann nach Belieben kommen, gehen, bleiben. Genau so soll es sein, sagt Festivalgründer Fischer. Offen für alle. Für passionierte Leser ebenso wie für Leute, die nie ein Buch in die Hand nehmen. Für die gebildete Bürgerschicht, aber auch für Menschen, die nie Geld für eine Lesung ausgeben würden. Der Eintritt zum Poetenfest ist frei. Nur für einzelne Veranstaltungen etwa am Abend im Markgrafentheater, das an den Schlossgarten angrenzt, oder für die Sonntagsmatinee, die stets aktuellen politisch-gesellschaftlichen Themen nachgeht, werden ein paar Euro verlangt.
Das Niederschwellige war es, das dem früheren SPD-Oberbürgermeister Dietmar Hahlweg so wichseiner tig gewesen ist. Hahlweg habe ihn in den 70er-Jahren von Ingolstadt nach Erlangen geholt, erzählt Fischer. Er machte ihn zum Leiter der „kulturellen Breitenarbeit“, dann zum Chef der Festivals der Stadt. Fischer hat einen engagierten Nachfolger gefunden: Bodo Birk. Der 49-Jährige setzt im Kulturamt mit seinem Team fort, was Fischer begonnen hat. Ein Glücksfall, sagt Fischer.
Das offene Konzept überzeugt Birk bis heute. Und auch die Stadtspitze. Jährlich fließen nach seinen Angaben rund 150000 Euro in das Poetenfest. Nur einmal stand es auf der Kippe, 2002. Die Finanzsituation der Stadt war damals angespannt. Als sich das drohende Aus herumgesprochen habe, sei die Stadt von einer regelrechten Welle des Widerstands überrollt worden. Vor allem Bürger, aber auch Autoren und Verlage hätten protestiert. Mit Erfolg. „Seitdem wurde das Erlanger Poetenfest nie mehr infrage gestellt.“
Und es wird angenommen. Vor allem an einem so herrlichen Spätsommerwochenende. Wer die Gesichtszüge der Menschen im Park beobachtet, kann es sehen, das Glück. Wie sie dasitzen oder liegen. Entspannt. Lächelnd. Viele haben die Augen geschlossen. So lässt sich Literatur genießen. So kommt Literatur an. Der nahe Büchertisch, an dem viele neue Werke gekauft werden können, ist umlagert. Die Geschäfte laufen gut. So mancher Neuling wird noch schneller als geplant gedruckt, wenn der Verlag weiß, dass sein Autor in Erlangen liest.
Das behauptet zumindest Hajo Steinert, langjähriger Moderator am Hauptpodium. Der Literaturexperte betont auch, wie wichtig das Festival in seiner Branche ist. „Es liegt zeitlich ideal.“Nach dem IngeborgBachmann-Preis und noch vor der Frankfurter Buchmesse. Besucher erfahren früh, was der Herbst an Neuerscheinungen bringt. Steinert schätzt auch den bewährten Rahmen des Festes. Mit der „Nacht der Poesie“am Donnerstag startet es. Mit einem Autorengespräch am Sonntagabend – in diesem Jahr mit dem Österreicher Michael Köhlmeier – endet es. Vier Tage im Zeichen der Literatur. Mit Ausstellungen, der Vergabe des Übersetzer-Preises und Diskussionen. Herzstück sind aber die zweitägigen Lesungen auf der Schlosswiese. Beginn ist am Samstag um 14 Uhr. Dann setzen sich im halbstündigen Rhythmus Autoren aus dem deutschsprachigen Raum aufs Hauptpodium und lesen.
Ingeborg-Bachmann-Preisträger Ferdinand Schmalz macht den Anfang. Ein Mann, der vorlesen kann. Der Österreicher versteht es, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Mit seiner Hauptfigur Franz Schlicht, einem Tiefkühlkost-Ausfahrer. Eine kuriose Geschichte. Witzig. Tragisch. Eine Geschichte, der man viel länger folgen möchte als die 30 Minuten. Doch man kann ja Schmalz und den anderen Autoren Fragen stellen, mehr erfahren von ihnen, von ihrem Werk, auf einem der beiden Nebenpodien nur ein paar Meter entfernt.
Doch viele bleiben einfach vor dem Hauptpodium sitzen und lassen
Mutter und Tochter wissen genau, wo der beste Platz ist Jahrelang ist sie eigens von Augsburg hierher gefahren
sich vorlesen. So wie die 61-jährige Dame im sportlichen Sommerkleid. Das rote, umfangreiche Programmheft zum 37. Poetenfest liegt gut durchgearbeitet vor ihr. Sie kommt, wie sie betont, „weil ich die Autoren lesen hören will“. Großartig sei es, dass so viele lesen. Das „intellektuelle Gequatsche“auf den Nebenpodien interessiere sie dagegen nie.
Das Vorlesen liebt auch Monika Hoppe. Sie sitzt in der ersten Reihe. Ganz nah am Hauptpodium. Hoppe fällt auf mit ihrem eleganten grünweißen Hut, dem weißen Sommerkleid, dem passenden Schmuck. Mindestens 15 Jahre lang machte sie sich immer aus Augsburg auf zum Poetenfest. Heute lebt die frühere stellvertretende Schulleiterin des Maria-Theresia-Gymnasiums wieder in ihrem fränkischen Geburtshaus, nur wenige Kilometer von Erlangen entfernt. Als sie jung war, mussten ihre Eltern viel arbeiten, erzählt sie. Fürs Vorlesen blieb wenig Zeit. Das, sagt sie, holt sie beim Poetenfest nach. Und genießt es, sich für Stunden wie ein Kind zu fühlen, dem vorgelesen wird – „und das auch noch aus erster Hand“.