Wie ein Buch das eigene Leben ändern kann
Wenn Jugendliche straffällig werden, darf man sie zum Lesen verurteilen. Der Verein „Die Brücke“hat ein Projekt gestartet, das junge Menschen über ein gutes Buch zum Nachdenken anregen möchte
Augsburg Sie ist gerade 18, hat einen Ausbildungsplatz in einem Handwerksberuf sicher und hat sich dennoch auf diese Sache eingelassen: Die junge Frau ist bei einem Ladendiebstahl erwischt und angezeigt worden. Wie kann sie am besten aus der Sache für ihr weiteres Leben lernen? Der Jugendrichter meinte: mit Lesen.
Die junge Frau ist eine von gut 20 Jugendlichen, die im vergangenen halben Jahr solch eine „Strafe“mithilfe des Vereins „Die Brücke“abgeleistet haben. Der Verein kümmert sich um straffällig gewordene Jugendliche aus der Stadt und dem Landkreis Augsburg sowie aus dem Landkreis Aichach-Friedberg und hilft ihnen dabei, ihre richterlichen oder staatsanwaltlichen Weisungen auch erfüllen zu können.
Dass das neue Projekt der Leseweisung durchaus Sinn macht und ankommt, davon ist Brücke-Geschäftsführer Erwin Schletterer überzeugt. Es gehe nicht darum, den Jugendlichen zu einer Leseratte zu machen, sondern angeleitet von einem Mentor über eine Figur oder die Geschichte des Buchs zum Nachdenken über sich selbst anzuregen.
Wie das gelingen kann, hat Mentorin Ute Kolb mit der jungen Frau erlebt. Zwei Mal haben sie sich getroffen. „Am Anfang dachte ich schon, der Funke springt nicht über, die Jugendliche wollte eigentlich gar nicht über sich selbst oder das Delikt reden“, erzählt Ute Kolb. Also setzten die beiden bei dem Buch an. Sozialpädagogin und Projektleiterin Alexandra Wuchterl hatte für die junge Frau ein Buch herausgesucht, in dem es um einen jungen Mann in New York geht, der sich nicht den Vorstellungen seiner Eltern von einem typischen, erfüllten Erwachsenenleben in der amerikanischen Mittelschicht unterordnen will. Er sucht nach seinem eigenen Weg. Zunächst sprachen Ute Kolb und das Mädchen über die Hauptfiguren, über die Haupthandlung und die Entwicklung im Buch. So kann der Mentor erkennen, ob der Jugendliche das Buch überhaupt aufmerksam gelesen hat, was schließlich an sich schon ein großer Zeitaufwand ist. „Und plötzlich hat sich etwas verändert. Die junge Frau hat angefangen, über sich selbst zu sprechen“, hat Ute Kolb erfahren. Im Abschlussgespräch mit Sozialpädagogin Alexandra Wuchterl wird am Ende überprüft, ob die Leseweisung auch erfolgreich war. Noch einmal einen Diebstahl, das komme überhaupt nicht in Frage, habe die Jugendliche am Schluss gesagt, erinnert sich Ute Kolb. Schon allein, weil es ihr ganz furchtbar peinlich gewesen sei.
Freilich sei eine Leseweisung nicht für jeden straffälligen Jugendlichen der richtige Weg, sagt Alexandra Wuchterl. Eine gewisse Bereitschaft dazu müssten Jugendhilfe und Jugendrichter schon erkennen. Und dann kommt es auf das passende literarische Werk an. Die Sozialpädagogin kennt aber sehr viele Bücher. Sie sagt, dass bei der Auswahl des passenden Buchs für Mentor und Jugendlichen nicht so sehr das verübte Delikt, sondern der junge Mensch im Mittelpunkt steht. So hat sie beispielsweise Biografien über junge Männer, die wegen Gewaltoder Drogendelikten im Gefängnis landen, im Angebot – oder auch Geschichten, die sich mit dem Mut zur Abgrenzung von einem Freundeskreis mit schlechtem Einfluss befassen. Die straffällig gewordenen Jugendlichen sollen im Vergleich erkennen, wo die wirklichen Gründe für ihr eigenes verfehltes Verhalten liegen. Um diesem Erziehungsauftrag nachzugehen, probiert die „Brücke“immer wieder neue Wege aus, betont Erwin Schletterer. Der Weg der Leseweisung scheint, obwohl hier erst seit einem halben Jahr in der Erprobung, ein wirkungsvoller zu sein. Übrigens sind bislang mehr Jungen als Mädchen zu einer Leseweisung gekommen und darunter waren besonders viele Jugendliche aus dem Augsburger Land. Was vielleicht aber nur Zufall ist. »Kommentar