Psychotherapeut gesucht
Immer mehr Menschen glauben, dass ihre Seele krank ist und Hilfe braucht. Doch die Wartezeit für einen Therapieplatz ist oft lange. Was bringen Angebote im Internet?
Herr Dr. Melcop, Sie sind Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, wie lange müssen Menschen, die psychisch krank sind, in Bayern aktuell auf einen Therapieplatz warten? Dr. Nikolaus Melcop:
Das ist von Region zu Region unterschiedlich. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Wartezeit in ländlichen Regionen deutlich länger ist als in Ballungsräumen.
Und wie lange muss man im Schnitt auf dem Land warten? Melcop:
Im Schnitt drei bis sechs Monate. Diese Wartezeit ist aber wirklich nur ein grobes Maß. Denn viele Psychotherapeuten führen gar keine Wartelisten mehr. Und bei besonders gefragten Psychotherapeuten können die Wartezeiten auch in Ballungsräumen sehr lang sein.
Haben denn die Erkrankungen in Bayern so stark zugenommen? Melcop:
Zur Frage der Verteilung psychischer Störungen in der Bevölkerung gibt es gute Studien. Die meisten kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Krankheitsrate nicht verändert hat, sondern stabil geblieben ist. Gestiegen ist aber die Zahl der Menschen, die Hilfe suchen.
Und wie kam es dazu? Trauen sich heute einfach mehr Menschen, zum Psychotherapeuten zu gehen – das wäre ja eine positive Entwicklung ... Melcop:
Das ist eine positive Entwicklung. Denn sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Hausund Fachärzten werden psychische Erkrankungen deutlich ernster genommen als früher. Es hat sich zunehmend die Meinung durchgesetzt, dass sich für diese Erkrankung niemand schämen muss und sie einer Abklärung durch einen Experten bedürfen. Das Wissen und die Behandlungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Dennoch muss man sagen: Psychische Erkrankungen sind insbesondere im Arbeitsleben leider oft noch sehr stigmatisierend. Daher gilt es immer sehr genau abzuwägen, wie offen man mit einer Erkrankung im konkreten Fall umgehen kann, und man muss dabei insbesondere abschätzen, welche negative Folgen im beruflichen Umfeld dies nach sich ziehen könnte.
Gibt es denn Unterschiede bei Männern und Frauen – gehen Frauen nach wie vor häufiger zum Therapeuten? Melcop:
Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen steigt bei Frauen und Männern. Doch im Schnitt sind mehr Frauen offen dafür, sich behandeln zu lassen.
Und mit welchen Erkrankungen kommen Frauen und Männer? Melcop:
Insgesamt hat die Vergabe der Diagnose Depression zugenommen. Von Depressionen sind Frauen öfter als Männer betroffen. In der Bevölkerung sind in Studien bei Frauen und Männern Angststörungen als Störungsgruppe am häufigsten zu finden. Bei Männern sind Suchtprobleme weiterhin ein großes Thema, vor allem in Bezug auf Alkoholabhängigkeit.
Im April 2017 wurde eine Psychotherapie-Reform eingeleitet, die mit dazu beitragen soll, die langen Wartezeiten zu verkürzen. Unter anderem müssen alle Psychotherapeuten zur ersten Abklärung nun Sprechstunden anbieten. Und auch eine kurze, zwölf Sitzungen umfassende Akutbehandlung ist nun möglich. Hat sich dadurch die Lage verbessert? Melcop:
Das ist beides so neu, dass wir erst dabei sind, die Wirkung abzuschätzen. Positiv ist natürlich, dass mit einer Sprechstunde die Zugangsschwelle für das Aufsuchen eines Psychotherapeuten sinkt. Ab April 2018 wird der Besuch einer Sprechstunde vor einer Therapie auch für Patienten verpflichtend. Auch Menschen mit unklaren Beschwerden können dadurch schneller eine klare Diagnose und eine Beratung zum weiteren Vorgehen erhalten. Und wir als Psychotherapeuten können den Bedarf dadurch differenzierter dokumentieren. Ein großes Problem bleibt allerdings: Wer wirklich eine Psychotherapie braucht, muss immer noch sehr oft warten. Denn mehr Behandlungskapazitäten, also mehr Therapieplätze, wurden durch die Sprechstunde nicht geschaffen. Aber gerade das wäre doch nötig. Was müsste dafür geschehen? Melcop:
Als Kammer fordern wir schon lange eine neue Bedarfsplanung. Sie legt fest, wie viele Therapeuten in einer Region zugelassen werden, und die aktuell gültige Bedarfsplanung ist veraltet. Sie geht von falschen Berechnungen aus. Gerade im ländlichen Raum brauchen wir deutlich mehr zugelassene Psychotherapeuten, als dies derzeit vorgesehen ist.
Wie viele Psychotherapeuten haben wir in Bayern? Melcop:
Unsere Kammer zählt etwa 7300 Mitglieder. Hinzu kommen die ärztlichen Kollegen, die als Psychotherapeuten tätig sind.
Im Internet wachsen die Angebote für Therapien. Wie beurteilen Sie diese? Melcop:
Das ist ein weites Feld mit einer unüberschaubaren Zahl an Angeboten, die sehr schwer einzuschätzen sind. Und die Zahl wächst
vom Chat über Apps bis hin zu E-Mail-basierten Therapieangeboten. Ich kann Ratsuchende nur zur größten Vorsicht raten. Vor allem muss immer darauf geachtet werden, wer das Programm anbietet, wie professionell und verantwortlich das gemacht wird. Sie dürfen ja nicht vergessen: Hier werden sehr sensible persönliche Daten elektronisch weitergegeben, sie dürfen nicht in falsche Hände geraten.
Auf was sollten Patienten achten?
Melcop:
Auf unserer Homepage der Bundestherapeutenkammer finden Patienten eine Checkliste für Online-Angebote. Ich bin der Mei- nung, dass Online-Angebote in bestimmten Fällen eine gute Ergänzung zur klassischen Psychotherapie sein können. Wer aber unter erheblichen psychischen Beschwerden leidet, sollte unbedingt einen psychologischen Psychotherapeuten oder einen ärztlichen Psychotherapeuten aufsuchen und sich nicht ausschließlich über das Internet Hilfe holen.
Wie erkenne ich, ob ich an einer ernsthaften psychischen Erkrankung leide? Melcop:
Als Erstes muss ich mich ehrlich fragen, wie sehr das psychische Problem, das ich habe, mich in meinem täglichen Leben einschränkt. Wenn ich alltägliche Dinge nicht mehr tun kann, etwa öffentliche Verkehrsmittel oder das Auto nutzen, einkaufen gehen oder ins Kino, dann ist das ein Zeichen, dass eine schwerere Erkrankung vorliegt. Ein weiterer Punkt ist die Intensität des Leidensdrucks: Wie sehr leide ich? Und wie stark sind meine sozialen Kontakte dadurch gestört? Wer jemanden hat, dem er wirklich vertrauen kann, könnte diese Fragen natürlich auch mit dieser Person zusammen besprechen. Eine Rückmeldung durch andere hilft bei der ersten Einschätzung oft.
Männer haben oft Suchtprobleme
Dr. Nikolaus Mel cop, 57, ist Präsident der Psy chotherapeu tenkammer (PTK) Bayern sowie Vizepräsident der Bundespsycho therapeutenkammer.