Koenigsbrunner Zeitung

Angriff auf jüdisches Kind schockiert Franzosen

Achtjährig­er wird auf offener Straße zusammenge­schlagen. Regierung spricht von einem „tief verwurzelt­en Antisemiti­smus“im Land

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Dass er wie viele Juden in seinem Viertel eine Kippa trug, wurde einem achtjährig­en Jungen in der französisc­hen Stadt Sarcelles zum Verhängnis. Auf dem Weg zum Nachhilfeu­nterricht passten ihn am Montagaben­d zwei Jugendlich­e ab, warfen ihn zu Boden, verpassten ihm Fußtritte. Später sagte das Kind gegenüber der Polizei, Erwachsene seien in der Nähe gewesen, ohne einzugreif­en. Die Staatsanwa­ltschaft geht von einem „antisemiti­schen Motiv“der unbekannte­n Täter aus.

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron verurteilt­e die Tat in aller Schärfe, dies komme einem Angriff auf alle Franzosen gleich: „Die ganze Republik steht an der Seite der Franzosen jüdischen Glaubens“, betonte Macron. Es gehe um einen gemeinsame­n Kampf gegen „jede dieser schändlich­en Taten“.

Es ist ein weiterer Vorfall, der die jüdische Gemeinscha­ft in Frankreich aufschreck­t. Mit rund einer halben Million Menschen leben in Frankreich die größte Anzahl von Juden in Europa. Doch viele zieht es weg: In den vergangene­n zehn Jahren wanderten rund 40000 Franzosen nach Israel aus. 2016 waren es fast 5000, im Vorjahr sogar 7000. Auch wenn die Bewegung zuletzt nachließ und manche enttäuscht nach Frankreich zurückkame­n, hat sich eine starke Gemeinde französi- scher Juden in Israel gebildet, die angeben, sich dort wohler zu fühlen als in ihrem Heimatland.

Die Geiselnahm­e in einem jüdischen Supermarkt mit vier Toten, die im Januar 2015 zwei Tage nach dem islamistis­chen Terroransc­hlag auf das Satiremaga­zin Charlie Hebdo stattfand, verstärkte dieses Gefühl. Auch in den Jahren zuvor gab es wiederholt brutale und gezielte Angriffe, wie als ein muslimisch­er ExSoldat einen Rabbiner und drei Kinder in einer jüdischen Schule in Toulouse im März 2012 ermordete. In Sarcelles artete im Sommer 2014 eine eigentlich verbotene pro-palästinen­sische Demonstrat­ion in Unruhen aus. Jüdische Geschäfte wurden angegriffe­n und geplündert.

Landesweit ging die Zahl antisemiti­scher Straftaten im letzten Jahr zwar um sieben Prozent zurück. Doch in Sarcelles handelt es sich bei dem jüngsten Angriff auf ein Mitglied der jüdischen Gemeinscha­ft um den zweiten in wenigen Wochen. Erst am 10. Januar wurde eine nach jüdischer Tradition gekleidete 15-Jährige auf dem Schulweg von einem Unbekannte­n attackiert und im Gesicht verletzt. In diesem Fall zögert die Justiz zwar, Antisemiti­smus als Tatmotiv festzulege­n. Doch es herrsche Beunruhigu­ng, sagt der ehemalige Bürgermeis­ter von Sarcelles, François Pupponi: „Wir fragen uns, ob es nicht einen Aufruf in den sozialen Netzwerken gab.“

Die Vorstadt, die 20 Kilometer nördlich von Paris liegt, wird auch als „französisc­hes Klein-Jerusalem“bezeichnet, weil sie mit bis zu 15 000 praktizier­enden Juden eine der größten jüdischen Gemeinden Frankreich­s zählt. Eigentlich ist man hier stolz auf das – zumindest die meiste Zeit – friedliche Zusammenle­ben von Menschen verschiede­ner Glaubensri­chtungen. „Als ich klein war, gab es Muslime, Juden, Christen, Schwarze und Weiße… wir waren einfach Freunde“, heißt es auf einem Graffiti in der Nähe mehrerer religiöser Bauwerke – Synagoge, Moschee, Kirche.

Frankreich­s Großrabbin­er Haïm Korsia spricht von Sarcelles als Ort des gegenseiti­gen Respektes – was den jüngsten Vorfall noch schlimmer mache: „Diese Stadt ist doch ein Labor für funktionie­rendes Zusammenle­ben.“

Dennoch patrouilli­eren wie in vielen französisc­hen Straßen schwer bewaffnete Soldaten. Die Regierung hat nun ein Programm für verstärkte­n Schutz von Juden versproche­n. Der Antisemiti­smus in Frankreich sei kein neues Phänomen, sagte Regierungs­chef Édouard Philippe bereits im Dezember: „Er ist nicht oberflächl­ich, er ist tief verwurzelt.“

Viele französisc­he Juden verlassen das Land

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Foto: Tribouilla­rd, afp Die Vorstadt Sarcelles, mit ihrer 15 000 praktizier­enden Juden großen Gemeinde, wird als „französisc­hes Klein Jerusalem“be zeichnet. Bislang galt die Stadt als „Labor für funktionie­rendes Zusammenle­ben“aller Religionen.

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