Es ist kompliziert
Die zweite Staffel der US-Serie „Jessica Jones“gehört zum Besten, was Netflix je produziert hat. Warum das so ist, zeigt eine Kritik ohne Spoiler der zweiten Staffel
Landkreis
Die Protagonistin der Marvel-Comics- und US-Serie „Jessica Jones“ist zu Beginn der zweiten Staffel meist wütend. Und betrunken. Eine Kombination, die oft fatale Konsequenzen für ihre Umwelt hat. Dabei könnte sie sich nach den Ereignissen ihrer jüngsten Vergangenheit doch zurücklehnen und als Heldin feiern lassen – aber eine Heldin, das will sie nicht sein. Zu tief sitzen ihre inneren Dämonen.
Woher diese unbändige Wut stammt und was es mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten auf sich hat, damit beschäftigt sich die jüngste Staffel der US-Serie. Und webt vor dem Auge des Zuschauers ein dichtes Psychogramm einer sensiblen Seele, die sich hinter kühler Attitüde und roher Kraft verbirgt.
Worum geht’s? Nachdem Jessica ihrer Nemesis, dem Schurken mit britischem Akzent Kilgrave, kurzerhand den Hals umgedreht hat, widmet sie sich wieder ihrem Brotberuf – sie ist Privatdetektivin. Durch ihre Arbeit gerät sie alsbald mit dem erfolgreichen Privatermittler Pryce Cheng aneinander. Und der beauftragt schließlich die Anwältin Hogarth, um Jessica das Handwerk zu legen. Denn Cheng hält sie für eine Bedrohung der Allgemeinheit. Währenddessen verrennt sich Jessicas beste Freundin und Adoptivschwester Trish Walker immer weiter in die Story um den Konzern IGH – die Firma, die verantwortlich für Jessicas Superkräfte ist. Und wohl auch für die einiger anderer, wie sich im Verlauf der Staffel herausstellen wird. Trish entpuppt sich dabei als Karrierefrau, der an Familie nur wenig liegt. Schnell ist klar, das hier kann nicht für alle gut enden.
„Wenn du jetzt sagst: ,Mit großer Macht kommt große Verantwortung‘ – ich schwöre, ich kotz dich voll.“Solch lakonisch dahingesetzte Sprüche zeichnen das richtige Bild der Superheldin wider Willen. Krysten Ritter spielt sie grandios. Die beiden Nebendarstellerinnen Rachael Taylor (Trish Walker) und Carrie-Anne Moss (Hogarth) müssen sich mit ihrem Schauspiel dabei nicht verstecken. Sie bilden mit Ritter ein starkes Frauentrio als Fundament der Serie. Jones direkte Art, ihre eigenwillige Attitüde verkörpert Ritter in jeder Sekunde ihres Schauspiels. Doch die große Kunst ist, dass der Zuschauer jederzeit ahnt, welche Abgründe sich unter dem harten Mantel verbergen müssen, den Ritter ihrer Figur übergestülpt hat. Und wenn die Geschichte in der zweiten Hälfte an Fahrt aufnimmt, ist die Wandlung der Jessica Jones nicht nur glaubwürdig – sie geht unter die Haut. Das ComicGenre emanzipiert sich mit dieser Staffel endgültig von seinen Wurzeln im Actionbereich und zeigt, dass große, auch feministische, Charakterstudien gerade in der zerrissenen Welt zweifelnder Übermenschen ihren Platz haben müssen. Dazu braucht es keinen Erzschurken, der wieder einmal droht, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Schatten aus der Vergangenheit und der Ballast des alltäglichen Lebens können auch den stärksten Menschen schaffen.