„Einfühlung ist ein wichtiges Wort“
Die Schriftstellerin und Dramatikerin Nino Haratischwili erhielt gestern Abend im Goldenen Saal den Brechtpreis. Der Augsburger Dichter prägte sie wie kein anderer Autor
Am Anfang stand „Der kaukasische Wendekreis“. Brechts Stück, das die Schriftstellerin Nino Haratischwili als 15-Jährige im Theater in Tiflis sah und das einen tiefen Eindruck hinterließ. „Ich saß im Zuschauerraum und wollte genau dies, ich wollte diese Freiheit, diesen Rausch, dass man durch die Worte, die man auf der Bühne zum Leben erweckte, dieses Fest der Sinne feierte. Ich wollte diesen Mut und diese Relevanz erreichen.“
Was kann einem Literaturpreis Besseres passieren als eine Preisträgerin, die sich so ausdrücklich in ihrer literarischen Sozialisierung auf den Namensgeber des Preises beruft wie die 1983 in Tiflis in Georgien geborene Haratischwili? Kein Autor oder Theatermacher habe sie so geprägt in ihrem Werdegang wie Bertolt Brecht, sagte sie gestern Abend im Goldenen Saal, als sie die mit 15000 Euro dotierte Auszeichnung entgegennahm. Haratischwili ist die neunte Preisträgerin des Brechtpreises und wurde laut Jurybegründung für ihr dramatisches Werk ebenso ausgezeichnet wie für ihren jüngsten, 2014 erschienenen Roman „Das achte Leben (für Brilka)“.
Zu Beginn des Abends, den das Walter-Bittner-Trio musikalisch umrahmte, hatte Bürgermeister Stefan Kiefer darauf hingewiesen, wel- ches Signal von der Entscheidung für diese Preisträgerin auch für die Stadt ausgehe: Sie sei für alle fremdsprachigen Mitbürger ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie man sich in einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, auszudrücken lernen kann. Laudator Andreas Platthaus, Literaturchef der
würdigte in seiner Laudatio das Werk Haratischwilis, das aus fast zwanzig Theaterstücken und drei Romanen besteht. „Wenn Bertolt Brecht das epische Theater erfunden hat, dann Nino Haratischwili die theatralische Epik“, sagte er in Anspielung an ihren über tausend Seiten starken letzten Roman. Dass der Einfluss Bertolt Brechts auf sie aber nicht nur in Verehrung, sondern auch in Widerspruch und Abgrenzung mündete, machte Nino Haratischwili in ihrer Rede deutlich, in der sie sich vor allem dem Schreiben fürs Theater widmete. Schwierigkeiten habe sie, die in einem Land geboren und aufgewachsen ist, das 70 Jahre Sowjetgeschichte hinter sich hatte, mit Brechts Überzeugungen als Kommunist gehabt. Erst später, als sie selbst Erfahrungen der Migration und Fremde gemacht habe, habe sie begriffen: „Ein Mensch, der Zeuge einer der größten Entmenschlichungen der Menschheitsgeschichte geworden war, der seiner Heimat und seiner Sprache beraubt wurde, der über diverse Städte und Länder fliehen und sich immer wieder neu erzählen musste, musste sich vielleicht gegen alles das stellen, was der Westen verkörperte und woran er gescheitert war.“
Die Suche nach jenem Zauber, den sie bei der Theateraufführung in Tiflis gespürt hatte, wurde zum Antrieb des eigenen Schaffens, stellte die Preisträgerin dar. Als Regiestudentin in Hamburg ab dem Jahr 2003 erlebte sie, die Menschen aus Fleisch und Blut auf der Bühne sehen und in ihren Theaterstücken Geschichten erzählen wollte, aber nur „das Diktat der Postdramatik und der Formen, die Inhalte schienen minder wichtig“. Die thematische Aktualität – gleich ob Flucht, die gesellschaftliche Stellung der Frau oder Integration – und die intellektuelle Herausforderung der Zuschauer waren das Diktum, unter dem Theater entstand, stellte sie gestern Abend dar. Dabei müsse Theater ihrer Ansicht nach vor allem eines sein: frei von Doktrin und Ideologie.
Erst über den Umweg der Prosa habe sie Freiräume für ihre Geschichten gefunden, stellte Nino Haratischwili dar. Und sie habe erkannt, dass die Überwindung von Einfühlung und Empfindung, die Brecht in seinem Epischen Theater durch Verfremdung suchte, heute nicht mehr wirksam sei als literarisches Konzept. „In einer Zeit, in der ein Riss durch die Gesellschaft zu gehen scheint, der immer größer und größer wird, in der das Fremde Angst und der andere wieder einen feindlichen Charakter bekommen hat, in der Welt der Ambivalenzen und der Undurchdringlichkeit, in der es immer schwerer zu werden scheint, einen eigenen Standpunkt zu finden, scheint mir Einfühlung ein wichtiges Wort.“Von Verletzlichkeit und Widersprüchlichkeit gelte es heute zu erzählen, sagte Brechtpreisträgerin Haratischwili.
Der Zauber, den sie als 15-Jährige bei Brecht gesehen habe, da ist sie heute sicher, liege in dem Mut und in der Bereitschaft, sich zu öffnen. Und deshalb dankte Nino Haratischwili zum Ende ihrer Rede nicht nur der Stadt Augsburg und der Jury für den Preis, sondern auch Brecht, „der mit seinen Worten nie aufgehört hat, mich herauszufordern“.