Wem gehört das alles wirklich?
Viele Sammlungen stehen im Verdacht, geraubte nationale Kunst zu beherbergen – Folge einstiger kolonialer Ausbeutung. Immer öfter ist von Rückgabe die Rede. Die Museen werden umdenken müssen
In die Museen ist Unruhe eingezogen. Keineswegs nur in die deutschen und auch nicht nur in diejenigen, deren Sammlungen einst zum Zweck der „Völkerkunde“zusammengetragen wurden. Nein, die Unruhe hat sich über alle großen europäischen Kulturnationen verbreitet, ist in London ebenso zu spüren wie in Wien und Paris, und nicht nur der Ethnologie verpflichtete Häuser fühlen sich in den Blick genommen, sondern auch kunsthistorische Museen. Denn kaum ein Monat vergeht, ohne dass Rückgabeforderungen laut würden (und vereinzelt bereits stattfinden wie gestern in Köln, als ein mumifizierter Maori-Schädel an Neuseeland zurückgegeben wurde), kaum mehr eine Woche passiert, in der sich nicht eine Stimme vernehmen ließe zum Themenkomplex von Kolonialismus und kulturellem Erbe. Die lauteste dieser Stimmen erscholl Ende letzten Jahres, als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron anlässlich eines Aufenthalts in Afrika öffentlich versprach, sein Land werde die Rückgabe unrechtmäßig erworbener Kulturgüter in die Wege leiten.
Schien zumindest in deutschen Museen der große Aufreger der vergangenen Jahre – die Frage der nationalsozialistisch bedingten Raubkunst und ihrer Restitution – langsam abzuflauen, so sind mittlerweile neue Wolken heraufgezogen. Es geht um jene Objekte, die während der Herrschaft europäischer Kolonialmächte – zu denen auch Deutschland gehörte – insbesondere aus Afrika nach Europa und hier in die Museen gelangten. Wie kann es etwa sein, dass bis heute in diversen Museen in Deutschland und anderswo die Benin-Bronzen präsentiert werden, plastisch-figurative afrikanische Artefakte, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge einer britischen Militäraktion erbeutet, nach Europa verbracht und dort verkauft wurden – Objekte, um deren Rückgabe Nigeria sich seit langem bemüht?
Weshalb sind die sogenannten Elgin Marbles nach wie vor im British Museum in London zu sehen – jene marmornen Reliefs und Skulpturen, die der englische Botschafter Lord Elgin zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der damals unter osmanischer Herrschaft stehenden Athener Akropolis herausbrechen ließ, Schätze, die das heutige Griechenland ebenfalls gerne zurückhätte? Und stimmt es tatsächlich, dass die Büste der Nofretete, Prunkstück des Ägyptischen Museums zu Berlin, mit Zustimmung der Ägypter nach Europa gelangte, wo doch die Altertümerverwaltung 1913 in französischen Händen lag?
Fragen wie diese schweben mittlerweile zuhauf über den Museen und ihren Beständen. Umso mehr, als ein Aspekt der Restitution von NS-Raubkunst zunehmend auch in die Diskussion um die aus ehemaligen Kolonialgebieten herbeigeschafften Kulturgüter Einzug findet: dass nämlich nicht alles, was unter formalen Gesichtspunkten rechtens ist, auch dem moralischen Gebot entspricht. In Deutschland wird aktuell umso mehr debattiert, als ein nationales Kultur-Prestigeprojekt unmittelbar davon betroffen ist: das Humboldt Forum in Berlin, das die Sammlungen des dortigen Ethnologischen Museums aufnehmen und im kommenden Jahr eröffnet werden soll.
Warum eigentlich waren die Kolonialherren einst so erpicht darauf, Zeugnisse fremder Kulturen in ihren Museen in Europa auszustellen? Die Kulturhistorikerin Bénédicte Savoy, zu Hause gleichermaßen im französischen wie im deutschen Wissenschaftsbetrieb, ist der Frage nachgegangen und hat dazu aktuell eine lesenswerte Studie veröffentlicht („Die Provenienz der Kultur“, Matthias & Seitz, 72 S., 10 ¤). Demnach gehörte im 19. Jahrhundert zum Wettlauf der Kolonialmächte um größtmöglichen Einfluss auch die Kultur und keineswegs nur die eigene, sondern auch der Ausgriff auf das „Kulturerbe der Menschheit“.
Dabei gab es schon früh Stimmen, die dem Unbehagen an der Verpflanzung von Kultur ihren Ausdruck gaben. Dazu gehörte der englische Dichter Lord Byron, der die Überführung der Elgin Marbles aus Athen in das „kalte Nord“Englands kritisierte. Gut ein Jahrhundert später stieß der Berliner Kunstkritiker Carl Einstein in ein vergleichbares Horn, als er das Berliner Museum für Völkerkunde als „Kühlkammer weißer Wißgier“bezeichnete. Die aktuelle Krise der Museen, schlussfolgert Bénédicte Savoy, sei also keinesfalls neu. Neu dagegen, möchte man hinzufügen, ist die Intensität dieser Krise.
Im anschwellenden Chor derer, die einen neuen Umgang mit „unserem“musealen Kulturerbe fordern, gibt es jedoch auch anderslautende Stimmen. Florian Knauß, Direktor der Münchner Antikensammlungen und der Glyptothek, sagte der
er finde es aberwitzig, zu denken, dass alle Dinge an ihren vermeintlichen Ursprung zurückkehren sollten. Griechenland zum Beispiel profitiere stark davon, dass die Kunst der Antike über die Welt verstreut ist. Viel wichtiger als der Standort sei doch, so Knauß, dass Kunst höchster Qualität allen zugänglich gemacht werde.
Trotzdem, die Zeit scheint abgelaufen für die Haltung vieler Museen, die Herkunft ihrer Objekte schlichtweg zu ignorieren. Auch eine Fachfrau wie Bénédicte Savoy – Präsident Macron hat sie in seinen Beraterstab für Kulturrückführungen geholt – plädiert für ein neues Verhältnis im Umgang mit diesem Erbe. Doch sie tut dies unaufgeregt. Es geht ihr nicht darum, die einschlägigen Museen in Europa kategorisch zu leeren. Wohl aber müssten in den Häusern neue Standards einziehen, wozu als Mindestes gehöre: „Die Erwerbsbedingungen ihrer Kunstwerke und Objekte aufzuklären und offenzulegen“– also, vergleichbar der NS-Raubkunst, aus eigener Initiative heraus Nachforschungen anzustellen.
Bénédicte Savoy geht noch einen Schritt weiter: Es gelte, „mit Menschen aus all den Regionen der Welt, aus denen Objekte zu uns gelangten, über die Zukunft unserer, d. h. auch ihrer Sammlungen zu sprechen“. Dialoge zu führen, aus denen heraus sich die unterschiedlichsten Formen von Partnerschaften ergeben könnten, von gemeinsamen Ausstellungsprojekten über wechselweise Ausleihen bis hin zu – ja, auch dies – „einvernehmlichen Restitutionen“.
Für Bénédicte Savoy ist dieser veränderte Umgang mit dem „Kulturerbe aller Kontinente“nichts weniger als ein „großes Projekt des 21. Jahrhunderts“.