Das seltene Zeugnis eines großen Verbrechens
Experte Winfried Nerdinger ruft Augsburg auf, aus der Halle 116 einen historischen Lernort über Zwangsarbeit in der NS-Zeit zu machen und möglichst schnell nach Zeitzeugen zu suchen. Was es nun zu tun gäbe
Wie man aus der ehemaligen Fahrzeughalle der Wehrmacht mit der Nummer 116 einen Lern- und Gedenkort machen kann, das interessiert offenbar viele Augsburger. Sie waren zahlreich zu einer Veranstaltung mit Prof. Winfried Nerdinger gekommen, dem ehemaligen Chef des Münchner und des Augsburger Architekturmuseums, dem Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in der Landeshauptstadt und dem unermüdlichen Kämpfer für eine Kultur der Erinnerung an die Nazizeit.
Nerdinger berichtete vom langen Weg zu dem Dokumentationszentrum, das in der Münchner Maxvorstadt an der Stelle des ehemaligen „Braunen Hauses“, der Parteizentrale der NSDAP, errichtet wurde – nach über 25 Jahren bürgerschaftlichen Forderungen, die vier Nachkriegsjahrzehnte des Verschweigens abgelöst hatten. Dort, am historischen Ort mitten im ehemaligen Parteiviertel der Nazis, kann man heute lernen, was zwischen 1933 und 1945 geschah, und man lernt auch, dass das uns Heutige durchaus etwas angeht. „Zum Beispiel, dass Demokratie auch scheitern kann“, sagte der 74-Jährige mit Blick auf die gegenwärtigen rechtsnationalistischen Umtriebe. Bauten und Orte sind nach der Überzeugung des renommierten Architekturhistorikers unerlässlich für das kulturelle Gedächtnis, für das Gedenken an die Opfer der Naziverbrechen und die Auseinandersetzung mit den Tätern. „Unser Gedächtnis funktioniert ortsbezogenen.“
Einen solchen historischen Ort hat auch Augsburg – die Halle 116 auf dem Areal der ehemaligen Sheridan-Kaserne, die 1936/37 als Teil der Luftnachrichtenkaserne erbaut wurde. 1944 wurde das Gebäude ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau; an die 2000 KZ-Häftlinge mussten dort leben, bewacht von SS-Männern und Wehrmachtssoldaten. Im Messerschmitt-Flugzeugwerk, in der Stadt und bei der mussten sie Zwangsarbeit leisten, in Zwölf-StundenSchichten; den weiten Weg zur Arbeit mussten sie meist zu Fuß zurücklegen. Die meisten Zwangsarbeiter kamen aus der Sowjetunion und Polen, einige aus Italien, Frankreich und Deutschland, auch polnische und ungarische Juden waren im Lager. Alle waren schlecht ernährt, wurden misshandelt, mindestens 74 von ihnen starben, etwa an Flecktyphus, aber auch durch Exekutionen.
Nerdinger plädierte in seinem Vortrag und der anschließenden Diskussion dafür, den historischen Ort zu erhalten. Bauliche Zeugnisse der Ausbeutung von Zwangsarbeitern seien nämlich nur noch selten vorhanden. Nicht mehr als ein halbes Dutzend Zwangsarbeiter-Lager gibt es noch in Deutschland, etwa in Berlin-Schöneweide oder in München-Neuaubing, wo derzeit eine Gedenkstätte entsteht. Darum bewertet Nerdinger die Augsburger Halle 116 als etwas „ganz Besonderes“. Ein solcher authentischer Ort sei wichtig, um endlich „eines der großen Verbrechen des Nationalsozialismus“ins Bewusstsein zu holen.
13 Millionen Menschen wurden nach regelrechten Menschenjagden in den von der Wehrmacht besetzten Ländern zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt, darunter 1,5 Millionen Kinder. Jeder Deutsche habe vermutlich mit Zwangsarbeitern zu tun gehabt, denn sie waren überall eingesetzt, in Städten, auf Bauernhöfen, in Fabriken, als Bombenräumkommandos und zu Aufräumarbeiten nach Fliegerangriffen. „Jede Stadt bräuchte eigentlich einen Gedenkort für die Zwangsarbeiter.“
An die Schicksale der Menschen, die in Augsburg gelitten und geReichsbahn schuftet haben, kann man in der Halle 116 erinnern. Doch dazu müsse man „sofort“nach Überlebenden und Zeitzeugen suchen, so Nerdingers zweite Empfehlung für Augsburg. Es reiche nicht aus, den Bau zu erhalten, er soll ja „gefüllt“werden mit den Berichten und Erinnerungen der Opfer. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, etwa der Ukraine oder Polen, lassen sich Unterlagen wie die Verhörprotokolle der rückkehrenden Überlebenden studieren. Zudem besteht noch die Chance, einzelne Überlebende zu finden, die ihre Geschichte erzählen können. Einer von ihnen, Witold Scibak aus Polen, der als Jugendlicher in der Halle 116 inhaftiert war, kam schon zweimal aus eigenem Antrieb nach Augsburg an die Stätte seines früheren Leidens. Die Stadt solle dringend nach anderen Überlebenden suchen, so Nerdinger, denn die Zeit drängt, die Betroffenen sind hochbetagt.
In München-Neuaubing baut die Stadt München zurzeit die Reste eines Zwangsarbeiterlagers zu Gedenkstätte und Lernort um, als Filiale des NS-Dokumentationszentrums. Auf dieser institutionellen Basis konnte Nerdinger, noch bevor er im Mai dieses Jahres in den Ruhestand ging, drei Mitarbeiter mit der Recherche nach Zeitzeugen beauftragen. Augsburg ist davon noch weit entfernt: Im Kulturreferat wurde eine halbe Stelle für Erinnerungskultur eingerichtet – und selbst das war nicht einfach, wie Kulturreferent Weitzel erklärte.
In der Diskussion mit Prof. Nerdinger wurde deutlich: Um aus der Halle 116 einen wirksamen Lernort zu machen, wären wesentlich mehr Arbeitskraft und Anstrengung nötig.