Hoffen auf ein Sommermärchen
Die Fußballer haben gepatzt, darin sehen die Leichtathleten ihre Chance. Schauplatz ist Berlin, wo die EM stattfindet. DLV-Präsident Jürgen Kessing über Gänsehaut, Hypes und Doping
Hand aufs Herz: Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Fußball-Nationalmannschaft bei der WM sangund klanglos ausgeschieden ist? Kessing:
Als Sportler bin ich ein Stück weit traurig, dass die Fußballer so schlecht wie nie abgeschnitten haben. Auf der anderen Seite aber ist das eine Chance für uns Leichtathleten zu zeigen, dass es noch deutsche Athleten gibt, die sehr erfolgreich sein können. Deswegen freuen wir uns auf die Heim-EM in Berlin.
Hoffen Sie auf ein Sommermärchen?
Kessing:
Wenn es noch eines gibt, dann nur bei uns. Die Fußballer haben es nicht geschafft. Wir hoffen auf eine Stimmung wie bei der EM 1986 in Stuttgart, da träumen heute noch viele davon. Dort herrschte Gänsehaut-Atmosphäre.
Wie sehr wurmt es, dass 12,74 Millionen das WM-Vorrundenspiel Polen Kolumbien sehen, aber nur 2,77 Millionen das WM-Finale über 100 Meter mit Usain Bolt? Kessing:
Das liegt vielleicht auch daran, dass die Leichtathletik nicht mehr so präsent ist wie vor 20 Jahren. Der Fußball hat es verstanden, einen Hype auszulösen, dass fast alle anderen Sportarten ins Hintertreffen geraten sind. Wir hoffen, durch die EM wieder etwas Rückstand aufzuholen und sind dankbar, dass wir mit
einen Vertrag bis 2024 für Großveranstaltungen besitzen. Andere Sportarten finden im TV gar nicht mehr statt.
Dann gibt es noch die Zuschauer, die live dabei sein wollen. Wird das Olympiastadion zur EM voll werden? Kessing: Das Stadion ist groß, daher ist es eine Herausforderung, es zu füllen. Wir haben schon mehr als 250 000 Karten abgesetzt und gehen davon aus, dass es Freitag bis Sonntag sehr sehr voll sein wird. Unter der Woche haben wir noch Luft.
Kessing:
Wir rechnen im Tagesschnitt mit 50 000 Zuschauer, das ist eine ganze Menge und mehr als bei den vergangenen beiden Europameisterschaften zusammen.
Die Deutschen Meisterschaften ab Freitag in Nürnberg sind das Warmlaufen für Berlin. Was erwarten Sie? Kessing:
Wir haben schon rund 80 Athletinnen und Athleten vornominiert, damit sie sich in Ruhe auf die EM konzentrieren können. Wir erwarten ein gutes Leistungsniveau.
Leichtathletik und Doping sind zuletzt nicht zu trennen gewesen. Stecken Sie im Zwiespalt, dass einerseits aufgeräumt werden muss, positive Fälle aber ein Stimmungskiller sind? Kessing:
Für mich ist das kein Zwiespalt, denn wir gehen mit dem Thema Doping offen um. Der DLV hat über Jahre hinweg in Person meines Vorgängers Clemens Prokop sehr hartnäckig für ein Antidoping-Gesetz gekämpft, das Gott sei Dank gekommen ist. Wir sind für saubere Athleten, sauberen Wettkampfsport und Chancengleichheit für alle. Unsere Athleten werden mit am häufigsten kontrolliert, was uns auch viel Geld kostet. Kessing:
Das ist bedauerlich, dass nicht alle Nationen unseren Weg beschreiten. Das Thema kann man nicht negieren, es gibt mehrere Sportarten, die immer latent unter Verdacht stehen. Wir machen sehr viel präventiv und starten in Nürnberg eine weitere Kampagne.
Mit Robert Harting beendet im September ein Sportler seine Karriere, der den Verband oft hart kritisiert hat. Kessing:
Ich drücke ihm die Daumen, dass er es noch zur EM schafft. Er ist ein toller Botschafter und ein tolles Aushängeschild für unsere Sportart. Und er ist ein kritischer Geist. Da fällt mir Otto Rehhagel ein. Er hat mal gesagt: Wenn ein Spieler mir keine Schwierigkeiten macht, wie will er dann seinem Gegenspieler auf dem Platz Schwierigkeiten bereiten? Er hat durchaus berechtigt den Finger in die eine oder andere Wunde gelegt. Aber er hat sich auch immer hinterfragt und daher lange auf dem hohen Niveau gehalten.
Ist eine WM in Deutschland ein Ziel?
Kessing:
Nach der EM werten wir aus und setzen uns dann intensiv mit der Frage auseinander, um welche Meisterschaften wir uns bewerben. Da gibt es einige Formate, die infrage kommen. Eine WM schließe ich von vornherein nicht aus.