Die Verlierer unserer Gesellschaft
Das Dramalution Kids Ensemble gibt im Stück „Klassenfeind“Einblicke in das schwierige Schulleben und die Sorgen der Außenseiter. Im Jugendzentrum Matrix stehen noch zwei Aufführungen an
Zum Auftakt flogen Stühle und Tische durch die Luft und knallten auf die Bühne im Jugendzentrum Matrix. Denn dort hatte das Stück Klassenfeind von Nigel Williams, aufgeführt durch das Dramalution Kids Theaterensemble unter der Leitung von Angie Klecker, seine Premiere. Bei dem Wort „Klassenfeind“kommt einem unweigerlich der Kalte Krieg in den Sinn, doch ist der Titel dieses Stückes sehr wörtlich zu nehmen – nicht auf eine Klasse der Gesellschaft, sondern auf eine Schulklasse bezogen. In die Klasse 10a, „A wie Arsch“, wie sie sich selbst gerne nennt, wurden sämtliche Schüler gesteckt, bei denen die Lehrer bereits aufgegeben haben. Diese Lehrer, die bislang versuchten, die Jugendlichen in das normale Schulleben zu integrieren, sind gescheitert. Und dieses Scheitern macht sie zum Feind. Dem Feind der Klasse 10a. Dem Klassenfeind. Da sich nun offenbar kein Lehrer mehr in das Klassenzimmer wagt, haben die Schüler den Raum bereits verwüstet: Das Bühnenbild zeigt zerrissenes Papier, umgeworfene Stühle und Tische sowie eine verschmierte Tafel. Als die Schüler, acht Stück wurden in der 10a zum Lehrerfeind abgestempelt, nun auf einen neuen Lehrer warten, wollen sie sich die Zeit vertreiben. Der Anführer der Klasse, Fetzer (gespielt von Romeo Fischer), beschließt, jeder der Schüler muss eine Unterrichtsstunde halten und über das sprechen, was ihn außerhalb der Schule am meisten beschäftigt. So erfuhr das Publikum in bestechender Ehrlichkeit von den Sorgen der Außenseiter der 10a – und dass es auch in einem vermeintlich wohlhabenden Staat immer Menschen gibt, die durch das System fallen.
Koloss (Thomas Berchtold) und seine Schwester Blondie (Antonia Moeßner) wohnen beispielsweise in einem Plattenbau. Nach dem Tod ihres Vaters rutschte die arme Familie noch tiefer in den Schlund der Mittellosigkeit. Die Schuldigen an der Gier der Armut, die alles Schöne am Leben frisst, sind „die Ausländer“. Koloss und Blondie verkörpern die Szene der Neonazis. Mit einer Keule bewaffnet und von Hass getrieben, schlagen sie alles kurz und klein – besonders, wenn ihre Argumente hinterfragt und für falsch erklärt werden. „Die Ausländer sind schuld“ist auch das Thema der Unterrichtsstunde, die die beiden halten. Diese Feindseligkeit stachelt natürlich einen Schüler mit Migrationshintergrund an: Kebab (gespielt von Luca Lanzinger). Er sitzt in der 10a fest, da er in regelmäßigen Abständen Glasfenster einschlägt. Er offenbart auch den Grund für die zügellose Zerstörungswut: Noch im Grundschulalter wurde der türkischstämmige Kebab als „Kanake“beschimpft. Als er dann in einem Schaufenster einen Pappaufsteller einer Familie entdeckte, so einer, die ihn seiner Meinung nach auch als Kanaken hätten bezeichnen können, lösen die Scherben des zerbrochenen Fensters ein klein wenig Frust. Persönliche Frustration ist auch der Grund, weswegen Pickel (Valentin Moeßner) in die 10a gekommen ist. Pickel fühlt sich von allen Menschen, die ihm tagtäglich begegnen ignoriert: „Sie schauen nicht einmal durch mich hindurch, denn ich existiere nicht für sie.“Das verzweifelte Ringen nach Aufmerksamkeit gipfelt darin, dass er an jeglichen Orten masturbiert – deswegen sitzt er nun in der 10a. Er sagt, er wäre gestresst, doch den wohl größten Stress hat Vollmond zu tragen, der sich um seine beiden blinden Eltern kümmern muss. Diese „Schwäche“der Eltern nutzt Fetzer provokativ, um die eskalierende Stimmung noch weiter anzufachen, bis sie in einer Schlägerei endet, bei der Fetzer Vollmond zu Boden schlägt. Nur Angel (Taro Hoven) und Pickel können Fetzer von weiteren Exzessen gegenüber Vollmond abhalten. Vom Lärm beunruhigt, wird ein Lehrer (gespielt von Georg Noll) angelockt. Er wirft den Schülern schließlich vor, dass sie das Angebot der Bildung nicht annehmen wollten. Doch die Wahrheit ist, so versteht es das aufmerksame Publikum, dass zuerst die gesellschaftlichen und privaten Probleme der Schüler gelöst werden müssen, bevor das Prinzip Schule wieder greifen kann.
Dramalution Kids hat sich mit Klassenfeind abermals ein grandioses Stück ausgesucht. Ein Stück, das provoziert, ein Stück, das über Grenzen geht. Die Sprache der Jugendlichen ist von Kraftausdrücken geprägt und die aufkochenden Emotionen fordern eine enorme schauspielerische Leistung. Die Darsteller lieferten eine hervorragende Premiere ab. Sie ließen das Publikum Grenzen spüren, ob bei Wortwahl oder Gewaltbereitschaft. Sie verknüpften Theatralik mit realer Problematik, was ihnen bei den nächsten Aufführungen am Mittwoch und Donnerstag, 25. und 26. Juli, jeweils um 19.30 Uhr volle Publikumsränge bescheren dürfte.