Schnee von gestern
Vor 40 Jahren erleben die Deutschen einen Extremwinter. Vor 20 Jahren trifft es vor allem den Alpenraum. Und jetzt wieder. Eine Geschichte über kuriose Parallelen, prägende Kindheitserinnerungen und trübe Aussichten
Kempten/Berchtesgaden Es wird doch irgendwann wieder aufhören!? Dass Autofahrer stundenlang in ihren Fahrzeugen festsitzen. Dass hunderte Helfer tagelang auf Dächern balancieren, um diese von der Tonnenlast zu befreien. Dass Landwirte Pflegekräfte auf ihren Traktoren chauffieren, weil sonst Patienten nicht mehr versorgt werden könnten. Es wird doch irgendwann wieder aufhören zu schneien!?
Dieser Freitag erweckt zunächst den Anschein. Der Tag erwacht in schönsten Winterfarben, vor allem erwacht er niederschlagsfrei. Bis der Himmel zuzieht und der „WinterWahnsinn“, wie der Boulevard es inzwischen nennt, in die nächste Runde geht. Und der Deutsche Wetterdienst die nächste Unwetterlage für Sonntag ankündigt.
Welches Etikett man diesem Winter anhängen soll – Rekordwinter, Extremwinter, Irgendwaswinter –, wird man erst in ein paar Monaten sagen können. Die Jahreszeit ist ja noch jung. Einigen wir uns auf die Feststellung: Dies ist ein besonders heftiger und schneereicher Winter. Und schicken wir eine zugegeben ziemlich kühne Frage hinterher: Kann es sein, dass es sie alle 20 Jahre gibt, diese besonders heftigen und schneereichen Winter?
Wer die Wetterstatistik betrachtet, könnte jedenfalls auf diesen Gedanken kommen. 1978/79 rollt zum Jahreswechsel von Norden eine ungewöhnliche Kältewelle auf Deutschland zu. 20 Jahre später, im Winter 1998/99, versinkt der Alpenraum im Schnee – mit schlimmen Schäden und einem LawinenDrama in Galtür (Tirol), das 31 gearbeitet. Ich weiß noch, dass er abends mit dem Auto nicht mehr nach Hause fahren konnte.“Wegen der katastrophalen Straßenverhältnisse seien die Weihnachtsferien um eine Woche verlängert worden.
Meteorologisch ist die Sache schnell erklärt: Zwischen hohem Luftdruck über Skandinavien und einem Tief über dem Rheinland hat sich eine ungewöhnlich scharfe Luftmassengrenze über der Ostsee gebildet. Nördlich davon ist es eisig kalt, es stürmt und schneit über Dänemark und Norddeutschland, im Rheinland gießt es bei plus zehn Grad wie aus Kübeln, in BadenWürttemberg und Bayern ist es frühlingshaft mild.
Einen Tag vor Silvester rauscht die Kaltfront nach Süden bis zu den Alpen. Nord- und Ostdeutschland sind da bereits im Schnee versunken. 150 Ortschaften sind von der Außenwelt abgeschnitten, Stromund Telefonnetze fallen aus. Wegen des Sturms starten keine Hubschrauber, die meisten Straßen sind wegen der Verwehungen nicht mehr passierbar. Panzer von Bundeswehr und nationaler Volksarmee versuchen, zu stecken gebliebenen Autos und Zügen vorzudringen. In der Bundesrepublik sterben 17 Menschen in der Kälte, in der DDR sind es nach offiziellen Angaben fünf.
Winfried Stöber, heute 65, ist an diesem Tag mit seinem VW-Käfer nahe Hannover unterwegs. „Das waren so enorme Schneeverwehungen, wie ich sie später nie mehr gesehen habe“, erzählt der Rentner aus Wuppertal. Der damals 25-Jährige will von seinem Arbeitsplatz in Hannover zu seiner Schwester in Luthe fahren.
Die Extremwetterlage, so erklärt es später der Deutsche Wetterdienst, leitet einen langen, kalten und schneereichen Winter in weiten Teilen Europas ein. Lange liegt selbst in der norddeutschen Tiefebene und im sonst so milden Rheinland eine geschlossene Schneedecke.
20 Jahre später spitzt sich die Lage wieder zu, diesmal im Alpenraum. Ab dem 20. Januar kommt es über dem Nordatlantik immer wieder zu heftigen Stürmen, die Niederschlagsgebiete gegen die Alpen drücken. Es schneit tagelang, woburg chenlang. Bis zum 23. Februar gibt es etwa im Raum Galtür im Tiroler Paznaun vier Meter Neuschnee. Es herrscht Lawinengefahrenstufe fünf – die höchste, die es gibt.
5000 Urlauber halten sich an jenem 23. Februar 1999 in Galtür auf. Der Ort ist von der Außenwelt abgeschnitten, aber das ist nicht so ungewöhnlich im hinteren Paznaun. Einheimische und Urlauber werden seit Tagen aus der Luft versorgt.
Gegen 16 Uhr nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Zwischen Grieskopf und Grieskogel löst sich eine riesige Lawine und donnert ins Tal. Die Schneemassen dringen bis in den Ortskern vor. Häuser werden zerstört und 50 Menschen verschüttet. Experten berechnen später, dass wohl an die 300 000 Tonnen Schnee mit einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern hinabgestürzt sind. 31 Menschen sterben. Rettungskräfte können erst am folgenden Tag per Hubschrauber nach Galtür geflogen werden.
Verheerende Lawinenunglücke mit jeweils zwölf Toten gibt es in jenen Tagen auch im französischen Chamonix und in Evolène in der Schweiz. Im Allgäu ist die Lage zwar ebenfalls angespannt, aber längst nicht so dramatisch wie in anderen Alpenregionen. In Balderschwang im Oberallgäu werden am 25. Februar drei Meter Schnee gemessen, am Nebelhorn liegt so viel, dass Sessellifte in den Massen versinken. Das Kleinwalsertal ist wegen Lawinengefahr zeitweise nicht erreichbar, sämtliche Oberstdorfer Seitentäler sind dicht.
Eine Spätfolge des heftigen Winters bekommen die Menschen in der Region im Mai 1999 zu spüren. Durch Dauerregen und Schneeschmelze steigt der Pegel der Iller auf eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Höhe. Verheerende Überschwemmungen richtet der Fluss beim sogenannten Pfingsthochwasser an. Viele Menschen vor allem im Oberallgäu verlieren in den braunen Fluten Hab und Gut.
Und nun dieser Winter. Bislang sei er im Alpenraum um ein bis zwei Grad milder ausgefallen als im langjährigen Mittel, sagt Joachim Schug vom Wetterdienst Meteogroup. Gleichzeitig ist viel mehr Niederschlag gefallen als üblich, in den Alpen und den östlichen Mittelgebirgen vor allem als Schnee.
In den Allgäuer Alpen misst man in den vergangenen Tagen über einen Meter Neuschnee. Am Freitag sind Hubschrauber-Besatzungen pausenlos damit beschäftigt, gefährdete Hänge zu sprengen. Gigantische Schneebretter donnern ins Tal. Die gute Nachricht: Der Ortsteil Baad im Kleinwalsertal ist wieder erreichbar. Die 33 Schüler und vier Lehrer, die seit Mittwoch eingeschlossen waren, sind wieder zu Hause in München.
Brennpunkt ist nach wie vor Oberbayern. Mehr als 2200 Einsatzkräfte und Helfer sowie 350 Soldaten der Bundeswehr sind dort im Einsatz. Aus zahlreichen Regionen Bayerns kommt Unterstützung. So rücken aus dem Landkreis Neuburg-Schrobenhausen 130 Rettungskräfte in die Region Traunstein aus. Wichtigste Aufgabe ist es, möglichst viele Dächer vom tonnenschweren Schnee zu befreien. Vielerorts besteht die Gefahr, dass sie einstürzen. Bei der Räumung haben Turnhallen Priorität; sie müssen als mögliche Notunterkünfte freigehalten werden. In fünf Landkreisen gilt der Katastrophenfall: Bad TölzWolfratshausen, Miesbach, Traunstein, Garmisch-Partenkirchen und Teile des Berchtesgadener Landes.
Die schlimmste Nachricht an diesem Tag kommt aus Lenggries. Ein Schneeräumfahrzeug kippt auf einer Brücke um und stürzt in einen Wasserzulauf der Isar. Nur unter größten Anstrengungen gelingt es, den 48-jährigen Fahrer zu bergen. Er wird ins Krankenhaus gebracht, wo er seinen Verletzungen erliegt.
Im Landkreis Rosenheim müssen Autofahrer mehrere Stunden in ihren