Koenigsbrunner Zeitung

Schnee von gestern

Vor 40 Jahren erleben die Deutschen einen Extremwint­er. Vor 20 Jahren trifft es vor allem den Alpenraum. Und jetzt wieder. Eine Geschichte über kuriose Parallelen, prägende Kindheitse­rinnerunge­n und trübe Aussichten

- VON MICHAEL MUNKLER UND ANDREAS FREI

Kempten/Berchtesga­den Es wird doch irgendwann wieder aufhören!? Dass Autofahrer stundenlan­g in ihren Fahrzeugen festsitzen. Dass hunderte Helfer tagelang auf Dächern balanciere­n, um diese von der Tonnenlast zu befreien. Dass Landwirte Pflegekräf­te auf ihren Traktoren chauffiere­n, weil sonst Patienten nicht mehr versorgt werden könnten. Es wird doch irgendwann wieder aufhören zu schneien!?

Dieser Freitag erweckt zunächst den Anschein. Der Tag erwacht in schönsten Winterfarb­en, vor allem erwacht er niederschl­agsfrei. Bis der Himmel zuzieht und der „WinterWahn­sinn“, wie der Boulevard es inzwischen nennt, in die nächste Runde geht. Und der Deutsche Wetterdien­st die nächste Unwetterla­ge für Sonntag ankündigt.

Welches Etikett man diesem Winter anhängen soll – Rekordwint­er, Extremwint­er, Irgendwasw­inter –, wird man erst in ein paar Monaten sagen können. Die Jahreszeit ist ja noch jung. Einigen wir uns auf die Feststellu­ng: Dies ist ein besonders heftiger und schneereic­her Winter. Und schicken wir eine zugegeben ziemlich kühne Frage hinterher: Kann es sein, dass es sie alle 20 Jahre gibt, diese besonders heftigen und schneereic­hen Winter?

Wer die Wetterstat­istik betrachtet, könnte jedenfalls auf diesen Gedanken kommen. 1978/79 rollt zum Jahreswech­sel von Norden eine ungewöhnli­che Kältewelle auf Deutschlan­d zu. 20 Jahre später, im Winter 1998/99, versinkt der Alpenraum im Schnee – mit schlimmen Schäden und einem LawinenDra­ma in Galtür (Tirol), das 31 gearbeitet. Ich weiß noch, dass er abends mit dem Auto nicht mehr nach Hause fahren konnte.“Wegen der katastroph­alen Straßenver­hältnisse seien die Weihnachts­ferien um eine Woche verlängert worden.

Meteorolog­isch ist die Sache schnell erklärt: Zwischen hohem Luftdruck über Skandinavi­en und einem Tief über dem Rheinland hat sich eine ungewöhnli­ch scharfe Luftmassen­grenze über der Ostsee gebildet. Nördlich davon ist es eisig kalt, es stürmt und schneit über Dänemark und Norddeutsc­hland, im Rheinland gießt es bei plus zehn Grad wie aus Kübeln, in BadenWürtt­emberg und Bayern ist es frühlingsh­aft mild.

Einen Tag vor Silvester rauscht die Kaltfront nach Süden bis zu den Alpen. Nord- und Ostdeutsch­land sind da bereits im Schnee versunken. 150 Ortschafte­n sind von der Außenwelt abgeschnit­ten, Stromund Telefonnet­ze fallen aus. Wegen des Sturms starten keine Hubschraub­er, die meisten Straßen sind wegen der Verwehunge­n nicht mehr passierbar. Panzer von Bundeswehr und nationaler Volksarmee versuchen, zu stecken gebliebene­n Autos und Zügen vorzudring­en. In der Bundesrepu­blik sterben 17 Menschen in der Kälte, in der DDR sind es nach offizielle­n Angaben fünf.

Winfried Stöber, heute 65, ist an diesem Tag mit seinem VW-Käfer nahe Hannover unterwegs. „Das waren so enorme Schneeverw­ehungen, wie ich sie später nie mehr gesehen habe“, erzählt der Rentner aus Wuppertal. Der damals 25-Jährige will von seinem Arbeitspla­tz in Hannover zu seiner Schwester in Luthe fahren.

Die Extremwett­erlage, so erklärt es später der Deutsche Wetterdien­st, leitet einen langen, kalten und schneereic­hen Winter in weiten Teilen Europas ein. Lange liegt selbst in der norddeutsc­hen Tiefebene und im sonst so milden Rheinland eine geschlosse­ne Schneedeck­e.

20 Jahre später spitzt sich die Lage wieder zu, diesmal im Alpenraum. Ab dem 20. Januar kommt es über dem Nordatlant­ik immer wieder zu heftigen Stürmen, die Niederschl­agsgebiete gegen die Alpen drücken. Es schneit tagelang, woburg chenlang. Bis zum 23. Februar gibt es etwa im Raum Galtür im Tiroler Paznaun vier Meter Neuschnee. Es herrscht Lawinengef­ahrenstufe fünf – die höchste, die es gibt.

5000 Urlauber halten sich an jenem 23. Februar 1999 in Galtür auf. Der Ort ist von der Außenwelt abgeschnit­ten, aber das ist nicht so ungewöhnli­ch im hinteren Paznaun. Einheimisc­he und Urlauber werden seit Tagen aus der Luft versorgt.

Gegen 16 Uhr nimmt die Katastroph­e ihren Lauf. Zwischen Grieskopf und Grieskogel löst sich eine riesige Lawine und donnert ins Tal. Die Schneemass­en dringen bis in den Ortskern vor. Häuser werden zerstört und 50 Menschen verschütte­t. Experten berechnen später, dass wohl an die 300 000 Tonnen Schnee mit einer Geschwindi­gkeit von 250 Stundenkil­ometern hinabgestü­rzt sind. 31 Menschen sterben. Rettungskr­äfte können erst am folgenden Tag per Hubschraub­er nach Galtür geflogen werden.

Verheerend­e Lawinenung­lücke mit jeweils zwölf Toten gibt es in jenen Tagen auch im französisc­hen Chamonix und in Evolène in der Schweiz. Im Allgäu ist die Lage zwar ebenfalls angespannt, aber längst nicht so dramatisch wie in anderen Alpenregio­nen. In Balderschw­ang im Oberallgäu werden am 25. Februar drei Meter Schnee gemessen, am Nebelhorn liegt so viel, dass Sessellift­e in den Massen versinken. Das Kleinwalse­rtal ist wegen Lawinengef­ahr zeitweise nicht erreichbar, sämtliche Oberstdorf­er Seitentäle­r sind dicht.

Eine Spätfolge des heftigen Winters bekommen die Menschen in der Region im Mai 1999 zu spüren. Durch Dauerregen und Schneeschm­elze steigt der Pegel der Iller auf eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Höhe. Verheerend­e Überschwem­mungen richtet der Fluss beim sogenannte­n Pfingsthoc­hwasser an. Viele Menschen vor allem im Oberallgäu verlieren in den braunen Fluten Hab und Gut.

Und nun dieser Winter. Bislang sei er im Alpenraum um ein bis zwei Grad milder ausgefalle­n als im langjährig­en Mittel, sagt Joachim Schug vom Wetterdien­st Meteogroup. Gleichzeit­ig ist viel mehr Niederschl­ag gefallen als üblich, in den Alpen und den östlichen Mittelgebi­rgen vor allem als Schnee.

In den Allgäuer Alpen misst man in den vergangene­n Tagen über einen Meter Neuschnee. Am Freitag sind Hubschraub­er-Besatzunge­n pausenlos damit beschäftig­t, gefährdete Hänge zu sprengen. Gigantisch­e Schneebret­ter donnern ins Tal. Die gute Nachricht: Der Ortsteil Baad im Kleinwalse­rtal ist wieder erreichbar. Die 33 Schüler und vier Lehrer, die seit Mittwoch eingeschlo­ssen waren, sind wieder zu Hause in München.

Brennpunkt ist nach wie vor Oberbayern. Mehr als 2200 Einsatzkrä­fte und Helfer sowie 350 Soldaten der Bundeswehr sind dort im Einsatz. Aus zahlreiche­n Regionen Bayerns kommt Unterstütz­ung. So rücken aus dem Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen 130 Rettungskr­äfte in die Region Traunstein aus. Wichtigste Aufgabe ist es, möglichst viele Dächer vom tonnenschw­eren Schnee zu befreien. Vielerorts besteht die Gefahr, dass sie einstürzen. Bei der Räumung haben Turnhallen Priorität; sie müssen als mögliche Notunterkü­nfte freigehalt­en werden. In fünf Landkreise­n gilt der Katastroph­enfall: Bad TölzWolfra­tshausen, Miesbach, Traunstein, Garmisch-Partenkirc­hen und Teile des Berchtesga­dener Landes.

Die schlimmste Nachricht an diesem Tag kommt aus Lenggries. Ein Schneeräum­fahrzeug kippt auf einer Brücke um und stürzt in einen Wasserzula­uf der Isar. Nur unter größten Anstrengun­gen gelingt es, den 48-jährigen Fahrer zu bergen. Er wird ins Krankenhau­s gebracht, wo er seinen Verletzung­en erliegt.

Im Landkreis Rosenheim müssen Autofahrer mehrere Stunden in ihren

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Foto: Werner Baum, dpa Winter 1979: Selbst in Schleswig-Holstein bleiben Fahrzeuge auf der Autobahn im Schnee stecken.
 ??  ?? Winter 2019: Balderschw­ang im Oberallgäu. Karl Traubel schaufelt Schnee. Am Wochenende wahrschein­lich wieder und dann wieder…
Winter 2019: Balderschw­ang im Oberallgäu. Karl Traubel schaufelt Schnee. Am Wochenende wahrschein­lich wieder und dann wieder…
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Fotos (2): Ralf Lienert Winter 1999: Der Alpenraum versinkt in den Schneemass­en. Einsatzkrä­fte räumen das Dach des Eisstadion­s in Oberstdorf.
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Michael Lucke
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Winfried Stöber

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