Schwund
Nichts ist ohne Grund, weiß der Philosoph. Über diesem ehernen Weltgesetz wird oft ein anderes, nicht weniger felsenfest gefügtes Prinzip vergessen: Nichts ist ohne Schwund. Das ist unverdient und wird der Bedeutung dieses Phänomens nicht gerecht. Denn wer ein wenig die Gedanken schweifen lässt, der muss unweigerlich folgern: Mitten im Leben sind wir vom Schwund umgeben.
Man führe sich nur eine Allerweltssituation vor Augen: Abends ist ein Fläschchen Wein geöffnet, es schmeckt wohlig und die Welt wird endlich schön – doch ach, nach einer Weile fällt unser Blick auf die Flasche und wir sehen: den Schwund. Oder, anderes Beispiel: die uns eigene körperliche Spannkraft. Reitet man im Urlaub mal nicht jeden Tag auf seinem Fitnesstrainer aus, sondern gibt sich lieber lustvoll anderen Leibesgenüssen hin, dann dauert es nicht wirklich lange, bis der Spannungsabfall einsetzt und man auf den Schwund gekommen ist. Nach drei Schlemmerwochen dürfte fitnesstechnisch sogar die gefürchtete Schwundstufe erreicht sein.
Schwund war immer und überall, so ist das eben bei einer Konstante des Seins. Und natürlich treffen uns Verschleiß und Verlust nicht nur am eigenen Leibe, sie machen auch vor unserem Beutel nicht Halt, wovon jeder von uns als Leidtragender des Geldwertschwunds, vulgo Inflation, ein Lied singen kann.
Und doch können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zahl der Schwünde gefühlt (siehe dazu „Auf ein Wort“vom 2./3. Februar) im Wachsen begriffen ist. Ozonschichtschwund oben, Gletscherschwund unten, Anstandsschwund ringsumher. Und ganz akut: der Artenschwund – rückläufige Bienen, Schmetterlinge, Feldhasen und weitere Kreucher und Fleucher. Es wird einem ganz schwundelig vor lauter Schwund.
Schwund, wo ist dein Stachel?, mag ein Bruder Leichtfuß vielleicht rufen, doch einem solchen wäre mahnend in Erinnerung zu rücken: Näher, als du denkst! Wir brauchen uns bloß umzuschauen, in unserem Fall konkret: nach unten auf diese Seite – festgemauert steht die Anzeige. Weil dieser Kolumne also langsam der Platz hinschwindet, wollen jetzt auch wir dem Satz vom Schwund Genüge tun und also nach dem folgenden und letzten Wort – entschwinden.