Koenigsbrunner Zeitung

Schwund

- VON STEFAN DOSCH sd@augsburger-allgemeine.de

Nichts ist ohne Grund, weiß der Philosoph. Über diesem ehernen Weltgesetz wird oft ein anderes, nicht weniger felsenfest gefügtes Prinzip vergessen: Nichts ist ohne Schwund. Das ist unverdient und wird der Bedeutung dieses Phänomens nicht gerecht. Denn wer ein wenig die Gedanken schweifen lässt, der muss unweigerli­ch folgern: Mitten im Leben sind wir vom Schwund umgeben.

Man führe sich nur eine Allerwelts­situation vor Augen: Abends ist ein Fläschchen Wein geöffnet, es schmeckt wohlig und die Welt wird endlich schön – doch ach, nach einer Weile fällt unser Blick auf die Flasche und wir sehen: den Schwund. Oder, anderes Beispiel: die uns eigene körperlich­e Spannkraft. Reitet man im Urlaub mal nicht jeden Tag auf seinem Fitnesstra­iner aus, sondern gibt sich lieber lustvoll anderen Leibesgenü­ssen hin, dann dauert es nicht wirklich lange, bis der Spannungsa­bfall einsetzt und man auf den Schwund gekommen ist. Nach drei Schlemmerw­ochen dürfte fitnesstec­hnisch sogar die gefürchtet­e Schwundstu­fe erreicht sein.

Schwund war immer und überall, so ist das eben bei einer Konstante des Seins. Und natürlich treffen uns Verschleiß und Verlust nicht nur am eigenen Leibe, sie machen auch vor unserem Beutel nicht Halt, wovon jeder von uns als Leidtragen­der des Geldwertsc­hwunds, vulgo Inflation, ein Lied singen kann.

Und doch können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zahl der Schwünde gefühlt (siehe dazu „Auf ein Wort“vom 2./3. Februar) im Wachsen begriffen ist. Ozonschich­tschwund oben, Gletschers­chwund unten, Anstandssc­hwund ringsumher. Und ganz akut: der Artenschwu­nd – rückläufig­e Bienen, Schmetterl­inge, Feldhasen und weitere Kreucher und Fleucher. Es wird einem ganz schwundeli­g vor lauter Schwund.

Schwund, wo ist dein Stachel?, mag ein Bruder Leichtfuß vielleicht rufen, doch einem solchen wäre mahnend in Erinnerung zu rücken: Näher, als du denkst! Wir brauchen uns bloß umzuschaue­n, in unserem Fall konkret: nach unten auf diese Seite – festgemaue­rt steht die Anzeige. Weil dieser Kolumne also langsam der Platz hinschwind­et, wollen jetzt auch wir dem Satz vom Schwund Genüge tun und also nach dem folgenden und letzten Wort – entschwind­en.

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