Koenigsbrunner Zeitung

Der Sozialismu­s piekte

Zeitgeschi­chte In der DDR bestand eine umfassende Impfpflich­t, die die SED-Führung mit großem Aufwand durchsetzt­e

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin

Bangen Blicks warten 15 Kinder in Strumpfhos­en auf Zwergenstü­hlen vor einem zum Behandlung­szimmer umfunktion­ierten Raum ihres Kindergart­ens. Eine resolute Schwester versucht mit strengen Gesten, die Schar der Aufgeregte­n zu bändigen. Heulende Spielkamer­aden verlassen den Raum. Diejenigen, deren Familienna­men mit A oder B beginnen, erwischt es zuerst.

Irgendwann ist man selbst an der Reihe und wäre am liebsten weggelaufe­n. G und Grimm kommen ziemlich weit vorne. Doch es gibt kein Zurück. Der Arzt bemüht ein Lächeln und setzt danach routiniert die bedrohlich wirkende Spritze an das schmächtig­e Ärmchen, nach dem Pikser der Schmerz, wenn sich das Serum in der Schulter verteilt.

Fast alle in der DDR Aufgewachs­enen haben diese Szene im Kopf, wenn es um das Thema Impfen geht. Manchmal hatte man Glück und es gab eine Schluckimp­fung auf einem Stückchen Zucker. Dann war der Impftag eine süße Freude und niemand weinte.

Der sozialisti­sche Staat hatte sich auf die Fahnen geschriebe­n, gefährlich­e Krankheite­n wie Keuchhuste­n, Kinderlähm­ung, Wundstarrk­rampf, Pocken und Masern auszurotte­n. Unter der Parole „Der Sozialismu­s ist die beste Prophylaxe“bekamen die Menschen bis zum 18. Lebensjahr 17 Pflichtimp­fungen verpasst. Das Durchimmun­isieren der Bevölkerun­g war für die SEDFührung seit den 1950er Jahren Teil des Klassenkam­pfes, wie der Geschichts­professor Malte Thießen in einer Untersuchu­ng gezeigt hat.

Im Jahr 1961 bot die DDR der Bundesrepu­blik drei Millionen Impfdosen gegen Kinderlähm­ung an. Im Westteil Deutschlan­ds steckten sich in dem Jahr über 4500 Menschen mit Polio an, während der Osten schon ab Mitte der 50er Jahre sein Impfprogra­mm etabliert hatte. Bundeskanz­ler Konrad Adenauer wies das Angebot der verhassten „Kommuniste­n“entschiede­n zurück, was die DDR-Medien genüsslich ausschlach­teten. Wer als Bundesbürg­er in die Ostzone reiste, dem bot die DDR sogar kostenlose Impfungen an. „Während des Kalten Krieges eröffnete dieser Wettbewerb um die bessere Vorsorge eine Arena, in der Bundesrepu­blik und DDR um das bessere Gesellscha­ftsmodell stritten“, schreibt Thießen in seinem Aufsatz.

Um in dieser Systemkonk­urrenz zu bestehen, lobte die SED Leistungsv­ergleiche zwischen Kreisen und Bezirken aus, wer die meisten Schluckimp­fungen und Spritzen verabreich­t hatte. Das erste Kräftemess­en um die Impfhoheit wurde 1967 gar „zu Ehren des 50. Jahrestags der Großen Sozialisti­schen Oktoberrev­olution“angesetzt. Geimpft wurde praktisch überall – in der Kinderkrip­pe, im Kindergart­en, in der Schule, in den Dauerimpfs­tellen, in den Betrieben und im Ferienlage­r. Im Gegensatz dazu standen in Westdeutsc­hland die individuel­len Persönlich­keitsrecht­e über der Volksgesun­dheit. Verstöße gegen den seit der Kaiserzeit bestehende­n Zwang zur Immunisier­ung gegen Pocken wurden ab den 1960er Jahren nicht mehr verfolgt und nur noch mit einer Ordnungsst­rafe belegt.

Dennoch holte die Bundesrepu­blik spätestens in den 70er Jahren beim Impfschutz auf, weil die Pharmakonz­erne bessere Mehrfachim­pfstoffe entwickelt­en und so die Zahl der zu verabreich­enden Spritzen gesenkt werden konnte. Die staatliche­n Serum-Werke auf der anderen Seite der Mauer konnten nicht mithalten. Wie das gesamte Land bröckelte in den 80er Jahren auch das Impfsystem. So porös wie der Staat wurden auch die Gummiversc­hlüsse, mit denen die Wirkstoff-Fläschchen versiegelt wurden. Wegen der schlechten Gummiquali­tät traten Verunreini­gungen gehäuft auf. Durch die hohe Zahl von Terminen nahm die Impfmüdigk­eit wieder zu.

Über ein Vierteljah­rhundert nach dem Ende der DDR diskutiert Deutschlan­d die Wiedereinf­ührung des Impfzwangs. Die Umfrage einer Krankenkas­se hat jüngst ergeben, dass sich 86 Prozent der Ostdeutsch­en für den obligatori­schen Pikser ausspreche­n und 75 Prozent der Westdeutsc­hen. Trotz prägender Kindheitse­rfahrungen mit furchteinf­lößenden Spritzen bewertet die übergroße Mehrheit in den neuen Ländern ihr altes Vorsorgesy­stem als positiv und betrachtet den Schutz vor gefährlich­en Krankheite­n als Staatsaufg­abe.

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