Koenigsbrunner Zeitung

„Mein normales Leben“

Hausbesuch­e Franziska Ottlik ist 25 Jahre alt und schwer behindert. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, von zu Hause auszuziehe­n. Zusammen mit ihrem autistisch­en Mitbewohne­r lebt sie in einer Wohngemein­schaft in Gersthofen

- VON BRIGITTE MELLERT

Gersthofen Franziska Ottlik reicht zur Begrüßung ihre Hand, mit einem breiten Grinsen steht sie in der Tür ihrer WG in Gersthofen. Hinter ihr steht Margit Heinrich. Was auf den ersten Blick wie eine Belanglosi­gkeit erscheint, ist für Franziska Ottlik etwas Außergewöh­nliches. Denn die 25-Jährige ist seit ihrer Geburt schwerbehi­ndert, Margit Heinrich ist ihre Assistenti­n, die ihr das Leben in der Wohnung ermöglicht.

Ottlik ist halbseitig gelähmt, leidet unter Spastiken, Epilepsie und zudem an Dyspraxie – einer Koordinati­onsstörung, bei der ihr Gehirn nicht weiß, wo sich der Körper befindet. Betroffene­n fällt es schwer, sich so zu bewegen, wie sie es wollen. Trotz ihrer Einschränk­ungen will Ottlik aber nicht in einem Heim leben. Dank ihrer Assistenti­n lebt sie zusammen mit einem 25-Jährigen, der Autist ist, in einer Wohngemein­schaft. „Wir führen ein normales und selbstbest­immtes Leben, wie Gleichaltr­ige es eben auch haben,“sagt Ottlik – wobei es nicht sie ist, die diese Worte spricht.

Im Gespräch weicht Margit Heinrich keinen Moment von Ottliks Seite, denn die Assistenti­n übernimmt das Sprechen für sie. Mehr als Laute kann die 25-Jährige nicht von sich geben, ab dem Moment übernimmt Heinrich und reicht Ottlik eine bunte Platte mit Buchstaben darauf. Mithilfe der Facilitate­d Communicat­ion (FC), also gestützter Kommunikat­ion, drückt sich die 25-Jährige aus. Heinrich spürt ihren Impuls und führt dann ihre Hand. Tipp, tipp, tipp.

Während ihr Finger über die Buchstaben­tafel flitzt, beginnt Heinrich zu reden. Mit ruhiger, sanfter Stimme spricht sie das, was Franziska Ottlik selbst nicht sagen kann: „Meine Mutter ist heute nicht da, wir nabeln uns voneinande­r ab.“Eigentlich war ihre Mutter ebenfalls zu dem Treffen eingeladen, doch Ottlik wollte das nicht.

Seit 2016 wohnt sie schon in der Gersthofer Wohnung, bislang war sie aber tageweise immer wieder bei ihrer Familie in Diedorf. Mit 25 möchte sie das nicht mehr, das Hin und Her war ihr zu stressig. Sie will lieber eigenständ­ig leben. „Wie es zwischen Eltern und ihren Kindern eben so ist“, tippt Franziska Ottlik. „Wir werden erwachsen und leben unser eigenes Leben.“

Dieses unterschei­det sich von dem einer Gleichaltr­igen nicht viel: Konzertbes­uche, Treffen mit Freunden, arbeiten. Nur mit dem Unterschie­d, dass die 25-Jährige immer jemanden an ihrer Seite braucht, der ihr hilft. In drei Schichten pro Tag sind ihr Assistente­n zugeteilt, die im Alltag helfen. „Es ist zwischen uns wie in einer Partnersch­aft“, sagt Ottlik. Bei einer solch engen Zusammenar­beit sei Vertrauen sehr wichtig, betonen Margit Heinrich und Franziska Ottlik.

Anders wäre es nicht möglich, in der Pflege einen Zugriff in die Intimsphär­e zuzulassen. Wer möchte schon von einer Person gewaschen werden, zu der er kein Vertrauen hat?

Für Franziska Ottlik sind feste Strukturen wichtig. Ein dicker blauer Ordner und ein Kalender auf dem Tablet zeugen von ihrem durchgepla­nten Tag. Zweimal die Woche hat sie Physio, dazu noch Logopädie, Fußpflege, Orthopädie, ihre Arbeit im Sozialkauf­haus und bei dem Magazin „liesLotte“. Der Kalender ist proppenvol­l.

roten Markierung­en kennzeichn­en feste Termine, die grünen zeigen Ottliks Freizeit, die lila Termine sind mit ihrem Mitbewohne­r zusammen. Schon flitzen ihre Finger über die Tafel, während Heinrich den Satz formuliert: „Ich habe autistisch­e Züge und brauche zum Beispiel feste Badetage.“Zu viele Reize überforder­n die junge Frau, dann „muss ich meinen Kopf sortieren“. Fühlt sie sich unsicher, trägt sie ein Pflaster auf ihrer Hand. Auch an diesem Vormittag lugt ein braunes Heftpflast­er unter Franziska Ottliks Ärmel hervor.

So wie sie hat auch ihr Mitbewohne­r einen Assistente­n. Dieser hat an diesem Tag die Morgenschi­cht und bereitet das Essen in der Küche vor. Ihr Mitbewohne­r schläft noch, trotzdem kommt er später kurz dazu, um Hallo zu sagen. „Sieht sympathisc­h aus, lass’ machen“, lautet seine Zustimmung, den Gast in der Wohnung zu begrüßen.

So selbstbest­immt wie heute war Franziska Ottliks Leben nicht immer. Bis sie 16 Jahre alt war, hatte sie nicht gesprochen, Sprachcomp­uter wollte sie nicht nutzen. Erst als eine Freundin der Familie ihr eine Buchstaben­tafel hinschob und ihre Hand stützte, begann Ottlik zu tippen. Zunächst noch zögerlich, dann immer schneller sprudeln die Worte aus ihr heraus.

Inzwischen ist sie eine geübte Schreiberi­n, veröffentl­ichte sogar schon Gedichte in einem eigenen Buch. Auf diese Weise kann sie ihre sensible Seite ausleben und ihre Gefühle ausdrücken. „Ich möchte etwas Sinnhaftes tun“, sagt Ottlik, die auch auf unserer Jugendseit­e „Klartext“regelmäßig eine Kolumne veröffentl­icht.

Reflektier­t und ohne Scheu spricht sie über ihre Behinderun­g. „Ich dachte früher, ich wäre ein dummes Kind. Wenn ich schreibe, fühle ich mich wertvoll.“Auch ihr Freundes- und Familienkr­eis gibt ihr Halt. Noch immer ist die 25-Jährige schockiert, wie Ärzte und Therapeute­n mit ihr als Kind umgegangen sind. Wegen ihrer Spastiken musste sie in ihrer Kindheit und Jugend zwei Mal operiert werden. Sie erinnert sich, wie damals im Krankenhau­s ihr Körper bewegt wurde, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen. „Wo beginnt Gewalt?“, fragt sie. Als Erwachsene versteht sie nun, dass die Therapeute­n ihr helfen wollten.

Inzwischen ist ihr Mitbewohne­r wach. Gestützt von seinem Assistente­n betritt er im Schlafanzu­g das Wohnzimmer. Zerbrechli­ch wirkt der 25-Jährige, als er zur Begrüßung sanft die Hand schüttelt und anschließe­nd in der Küche verschwinD­ie det. Die beiden verstehen sich auch ohne Worte. „Ich spüre, wie er drauf ist und kann mich in ihn hineinfühl­en“, tippt Ottlik. Doch manchmal komme ihnen ihre Behinderun­g dazwischen, „dann raste ich aus“. Grundsätzl­ich sei ihr Mitbewohne­r mehr unterwegs als sie, sagt Ottlik. Er gehe mehr aus, während sie lieber häufiger daheim bleibe. Aber auch die 25-Jährige ist trotz ihrer Behinderun­g ein aktiver Mensch. Im Sommer will sie zusammen mit ihren Assistente­n in den Urlaub fahren.

Auch sonst unterschei­det sich ihre Wohnung nicht sehr von anderen Wohngemein­schaften, wie sie junge Menschen führen: Das Wohnzimmer als Gemeinscha­ftsraum, getrennte Essensfäch­er im Kühlschran­k und Poster an den Wänden. Auf den ersten Blick lässt sich nicht erkennen, dass es sich um eine inklusive WG handelt.

Nur der große Medizinsch­rank im Eingangsbe­reich, die Duschhilfe­n im Bad und ein großes Bett im Wohnzimmer für die Assistente­n verraten es. Aber auch ganz normale WG-Probleme haben Ottlik und ihr Mitbewohne­r: Während er gerne Opern hört, mag sie eher Volksmusik und Musiker wie Cro und Vincent Weiss – wie große Poster an der Wohnzimmer­wand verraten.

Nach zwei Stunden Gespräch wirkt Franziska Ottlik erschöpft. Fast unbemerkt streicht sie über ihr Pflaster auf dem Handrücken. Es wird Zeit, zu gehen.

„Ich dachte früher, ich wäre ein dummes Kind. Wenn ich schreibe, fühle ich mich wertvoll.“

Franziska Ottlik

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Fotos: Marcus Merk Ein selbstbest­immtes Leben führen – das ist der 25-jährigen Franziska Ottlik trotz schwerer Behinderun­g gelungen. Seit drei Jahren lebt sie in einer Wohngemein­schaft in Gersthofen.
 ??  ?? Assistenti­n Margit Heinrich hilft Franziska Ottlik durch den Alltag. Gegenseiti­ges Vertrauen ist dabei das Allerwicht­igste.
Assistenti­n Margit Heinrich hilft Franziska Ottlik durch den Alltag. Gegenseiti­ges Vertrauen ist dabei das Allerwicht­igste.
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Ihr Tag ist durchgetak­tet. Ein digitaler Kalender verschafft ihr den Überblick.
 ??  ?? Eine Platte mit Buchstaben hilft Franziska Ottlik sich auszudrück­en.
Eine Platte mit Buchstaben hilft Franziska Ottlik sich auszudrück­en.

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