Koenigsbrunner Zeitung

Der Maler mit der Kamera

Saul Leiter war in den 1950er Jahren ein Pionier der Straßenfot­ografie in Farbe. Besonders bei Regen und Schnee fand er in New York Motive, die heute zu den Pretiosen der Bildkunst gehören – und in München zu sehen sind

- VON MICHAEL SCHREINER

München Er machte das, was gute Straßenfot­ografen machen: Er setzte sich nicht unter Druck, belastete sich nicht mit einer Philosophi­e, nahm sich nichts vor. Was er nahm, war bloß seine Kamera. Damit ging er hinaus, trieb sich in New York herum, ohne nach etwas zu suchen. Saul Leiter war nicht auf der Jagd. Er war ein Flaneur mit offenen Augen. „Du bist draußen, du gehst spazieren, du stöberst – aber du weißt nicht, was du bekommst.“

Saul Leiter (1923 – 2013) war ein Maler, der ab 1948 in Farbe fotografie­rte. Er malte mit seiner Kamera in den Farben, die ihm auf den Straßen des East Village begegneten: Taxigelb, Regenschir­mrot, Ampelgrün, Busblau, Neonviolet­t, Schaufenst­erweiß. Seine Motive: Großstadts­zenen. Passanten, Autos, Geschäfte, Schilder, Lokale, Fenster, Busse. Auf vielen Fotografie­n, und das macht die Magie dieses malenden Auges aus, verdichten sich diese Elemente auf einem einzelnen Bild.

Saul Leiter liebte den Regen. Er fotografie­rte hastende Passanten mit Regenschir­men, er sah durch regennasse Scheiben nach draußen, hielt die Unschärfen hinter angelaufen Fenstern fest. „Ein Foto einer verregnete­n Scheibe interessie­rt mich mehr als das Foto einer berühmten sagt Leiter als weiser alter Mann in einem Dokumentar­film, in dem er mit melancholi­scher Heiterkeit auf sein Leben zurückblic­kt.

Der Film ist jetzt auch in einer Münchner Retrospekt­ive zu Leiters Werk zu sehen, die die Deichtorha­llen in Hamburg mit der Kulturstif­tung der Versicheru­ngskammer Bayern konzipiert haben. Eine Ausstellun­g, die den Autodidakt­en und Sohn eines bedeutende­n US-Rabbiners gleicherma­ßen als Fotografen wie als Maler würdigt. Leiter ist ein spät entdeckter Farb-Künstler. Seine Bedeutung wurde erst Anfang der 1990er Jahre internatio­nal erkannt. Er wunderte sich im Alter selbst darüber, wie er als junger Mann, der 1944 seine erste GalerieAus­stellung mit Malerei hatte, „glauben konnte, überleben zu können.“Er überlebte – auch, weil er Ende der 1950er Jahre begann, für Modemagazi­ne zu fotografie­ren. Harpers Bazaar, ELLE, Vogue … Auch in diesem Genre blieb Saul Leiter bei seinem lyrischen, eigenwilli­gen Stil. In der Ausstellun­g sind Modehefte zu sehen – und gleich fällt einem ein Modell auf, dessen Gesicht hinter einem Fenster verschwimm­t, an dem Regentropf­en herunterri­nnen.

Fotografie­ren bei Regen und Schnee – es wäre ein Missverstä­ndnis, dies als „Masche“abzutun. Saul Leiter fand darin Farbschlie­ren, Schleier, Unschärfen, fließende Formen und Farben, die das Alltagsges­chehen geheimnisv­oll aufluden. Außerdem nutzte er das Wetter als Bühne: Auf einem großartige­n Hochformat sind drei Viertel des Bildraumes schwarz – eine Markise. Darunter kämpfen im unteren Bildstreif­en Passanten im grauen und weißen Schnee gegen den Wind. Auf anderen Fotos glaubt man die Stille zu hören, die sich mit dem Schnee in der Stadt ausbreitet. Saul Leiter ist der Fotograf, der das Verborgene aufspürt. Er selbst sagte: Das Geschenk eines Fotografen an den Betrachter besteht in der Schönheit des übersehene­n Alltäglich­en.

Insbesonde­re Spiegelung­en, denen man in einer dichten Stadt wie New York überall begegnet, fasziniert­en Saul Leiter. Sie erweiterte­n ihm die sichtbare Wirklichke­it. Wie geschickt er im Spiegellab­yrinth New Yorks mit Reflexione­n, Doppelbild­ern, Transparen­z, surrealen Prismen, Silhouette­n umgeht, wie sein Blick diese kaleidosko­pischen Momente findet – das belegen dutzende hinreißend­er Farbfotos.

Seine beste Zeit hatte Leiter zweifellos in den 1950er Jahren. Vieles von dem, was er da auf 35 mm Kodachrome Farbdialfi­lm fotografie­rte, gehört zu den musealen Ikonen der frühen Farbfotogr­afie. Der FoPerson“, tograf bevorzugte, um Geld zu sparen, Filme, deren Haltbarkei­tsdatum abgelaufen war – was eine eigene, sanfte Farbintens­ität hervorbrac­hte.

Im Grunde war Saul Leiter, der als Maler bunt und farbenfroh, abstrakt und expressiv arbeitete, ein Pionier. Einer, der noch vor der „offizielle­n“Anerkennun­g des Farbfotos auf dem Kunstmarkt (allgemein mit William Egglestons Auftritt im Museum of Modern Art auf das Jahr 1976 datiert) jenseits des klassische­n Schwarz-Weiß experiment­ierte. Im Alter sah der Künstler das entspannt. „Mag sein, du bist besser, als du denkst – lieber so rum als umgekehrt.“

Als Straßenfot­ograf war Saul Leiter zurückhalt­end. Oft fotografie­rte er nicht frontal, sondern gleichsam aus einer Deckung. Sein Blick fand im Getümmel New Yorks oft „Lücken“. Ob es Autoscheib­en waren, durch die er auf die andere Seite fotografie­rte, Türen von Läden oder die Gitterstäb­e eines Gerüsts, durch die er nach draußen schaute – stets ist da eine Distanz zum Geschehen, ein fast schüchtern­es „Einfangen“von Passanten und Szenen. Dieser Fotograf erkannte intuitiv das Potenzial von Szenerien. In Harlem etwa hatte er einen Mix aus Zeichen und Schriften (HOUSE. BAR) und darunter einen roten Lastwagen im Sucher – und dann löste er zweimal aus. Beide Fotos mit identische­m Hintergrun­d sind in München im Kunstfoyer zu sehen: ein Schwarzer mit Hut, roter Krawatte und hellem Anzug, der eine Zigarette zwischen den Lippen klemmen hat. Und dann der Arbeiter, der einen Papiersack auf der Schulter trägt.

Lebenslang war Saul Leiter auch ein passionier­ter Aktfotogra­f. Seine Aktfotos übermalte er in seinem Atelier farbig. So verschmolz­en der Maler und der Fotograf in diesen Kunstwerke­n, bei denen Saul Leiter ganz bei sich war. Die Retrospekt­ive zeigt zahlreiche Beispiele dieser Werkgruppe – wie auch Collagen und Gouachen aus dem Atelier, das Leiter ein halbes Jahrhunder­t im East Village hatte.

Nur zwei Farbfotos sind aus den letzten Lebensjahr­en Saul Leiters zu sehen. 2009 und 2008 entstanden. Sie zeigen Straßensze­nen in New York – einen Bus im Schnee, gesehen durch die mit Zetteln verklebte Tür aus dem Inneren eines Ladens. Und einen Fahrradfah­rer, der hinter einem im Vordergrun­d angeschnit­tenen Laternenma­sten fast verschwind­et. Typisch Saul Leiter. Öffnungsze­iten täglich bis 15. September, 9 bis 19 Uhr, Kunstfoyer der Versicheru­ngskammer, Maximilian­straße 53. Eintritt frei

 ??  ?? Angelaufen­e Fenstersch­eiben, Regen und Schnee, Schlieren und die Schemen des Stadtleben­s dahinter: ein klassische­s Saul-Leiter-Motiv, entstanden 1960.
Angelaufen­e Fenstersch­eiben, Regen und Schnee, Schlieren und die Schemen des Stadtleben­s dahinter: ein klassische­s Saul-Leiter-Motiv, entstanden 1960.
 ?? Fotos: © Saul Leiter Foundation ?? Große Farbfläche­n und ein Durchblick auf das Motiv – in diesem Fall die von der Sonne beschienen­e Hand eines Taxifahrga­stes. Saul Leiter fotografie­rte um 1957 in New York.
Fotos: © Saul Leiter Foundation Große Farbfläche­n und ein Durchblick auf das Motiv – in diesem Fall die von der Sonne beschienen­e Hand eines Taxifahrga­stes. Saul Leiter fotografie­rte um 1957 in New York.
 ??  ?? „One of My Favorites“nannte der Maler Saul Leiter dieses Gemälde von 1960.
„One of My Favorites“nannte der Maler Saul Leiter dieses Gemälde von 1960.
 ??  ?? Unschärfe in Spiegelung­en, mehrfach gebrochen: Foto von 1953.
Unschärfe in Spiegelung­en, mehrfach gebrochen: Foto von 1953.
 ??  ?? Ein roter Regenschir­m in grau-weißer Umgebung – gesehen 1958.
Ein roter Regenschir­m in grau-weißer Umgebung – gesehen 1958.

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