So lebendig, so wahrhaftig
Terézia Mora Die Erzählung um den IT-Fachmann Darius Kopp wird fortgesetzt
Terézia Mora: Auf dem Seil Luchterhand, 368 Seiten, 24 Euro
Auf diese Fortsetzung hat man als Leser tatsächlich gewartet. Es war einfach zu grausam, wie das Schicksal dem IT-Fachmann Darius Kopp zugesetzt hat. Erst hat er seinen Job verloren, dann seine Frau („Der einzige Mann auf dem Kontinent“). Da war er noch eine ehe skurrile Figur im hippen Berlin der Nuller-Jahre, ein IT-Hochstapler, dem es nicht mehr gelang, sich erfolgreich durchs (Berufs-)leben durchzuwurschteln. Dann allerdings hat die Schriftstellerin Terézia Mora diesen Kopp buchstäblich in eine tragische Figur verwandelt. Seine Frau begeht für ihn völlig unerwartet Selbstmord, und Kopp muss schmerzlich lernen, wie wenig er von ihr tatsächlich gewusst hat. Denn ihr Tagebuch öffnet Kopp auf schmerzhafte Weise die Augen. Der Mensch, den er geliebt hat, entpuppt sich als ein anderer. Sein Leben befindet sich auf dem absoluten Tiefpunkt und das einzige Ziel, das er noch hat, ist, einen Ort für die Asche seiner Frau zu finden. „Das Ungeheuer“wurde 2013 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Mit „Auf dem Seil“setzt die Geschichte nun vier Jahre nach dem Tod von Kopps Frau ein. Seine Reise durch halb Europa hat auf Sizilien ihr vorläufiges Ende gefunden. An einem vom Blitz gespaltenen Baum auf dem Ätna hat er die Asche seiner Frau verstreut. Dort strandet Kopp, erst als Hausmeister einer kleinen Ferienunterkunft, später als Pizzabäcker in Catania. Gemeinsam mit Metin, der in Italien Matteo genannt wird, wechselt er sich am Holzhofen ab. Kopp ist aus dem Norden geflüchtet, Metin ist aus Nordafrika übers Mittelmeer gekommen.
Es gehört zur Meisterschaft von Terézia Moras Erzählkunst, solche großen Themen fast schon stillschweigend und unkommentiert zu präsentieren. Der Leser darf erkennen, dass die Schriftstellerin sich in der Gegenwart bewegt, dass diese Welt im Hintergrund gespiegelt wird. Vorne aber rauscht wieder diese Tonspur von Darius Kopp. Ein Mensch, der im dritten Band seinen Frieden damit gemacht hat, ein Niemand zu sein, der verschwunden ist aus seinem vorigen Leben. Kopp hat alles zurückgelassen, alle Kontakte gekappt, er lebt nur noch in der Gegenwart. Man könnte auch sagen: ein Traumatisierter auf dem Weg der Besserung. Jemand, der auf den folgenden 350 Seiten wieder langsam zu seiner eigenen Lebensgeschichte zurückkehrt und sich dieser stellt.
Es ist unglaublich, wie Mora aus diesem dritten Teil rund um Darius Kopp ein Lesevergnügen der besonderen Art macht. Brillant, wie sie diesen speziellen, leicht flapsigen Ton einfängt, die Welt und die Geschichte mit seinen Worten erzählt, immer wieder die Leser hinein in die Gedankenwelt führt. Bewusstseinsstrom nennt man diese Erzählform. Aber bei Mora wirkt das nicht wie eine Kategorie des Schreibens, sondern wie etwas Selbstverständliches, völlig Normales und Natürliches, wie die Urform allen Erzählens. Ohne Widerstand gleitet die Außenperspektive in die Innenperspektive und wieder zurück. Nirgendwo steht ein Satz zu viel. Dieser Kopp wirkt so echt, so lebendig, so wahrhaft, dass man ihm stundenlang zuhören kann. Da ist ein Mensch aus Fleisch und Blut zwischen den Buchdeckeln zu entdecken. Beziehung hatte. Und Lorelei – oder kurz Lore bleibt bei Kopp, weil sie die Zeit überbrücken will, bis sie endlich 18 Jahre alt wird und ihr eigenes Leben beginnen kann. Ihr Berufswunsch: „Visagistin“.
Sie allein hätte Kopp vielleicht noch abschütteln können, um weiter in seinem selbst geschaffenen Niemandsland zu leben. Als er aber herausfindet, dass Lore schwanger ist, fühlt er sich für ihr Wohlergehen verantwortlich. Also reist er mit ihr nach Berlin, die Stadt, in der der ganze Romanzyklus begann. Dort möchte Lore bei Freunden einziehen, die studieren wollen. Aber diese Freunde vertrösten sie ständig. Eine Belastungsprobe für Kopp und Lore, die sich ständig neue Unterkünfte organisieren müssen.
Kopp fängt an, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder langsam zu kitten. Er meldet sich bei Freunden, denen er Geld schuldet, geht Stellenanzeigen durch und überlegt sich, ob es noch etwas aus diesem Leben als IT-Fachmann gibt, das ihn reizt. Dazu taucht Matteo unerwartet auf, den Kopp und Lore in Catania zurückgelassen haben. Der junge Mann kümmert sich rührend um die Schwangere, aber Kopp misstraut ihm, weil er in ihm nur jemanden sieht, der sich über Lore eine Aufenthaltsgenehmigung ergaunern möchte.
Das Kind ist auf dem Weg, Matteo verschwindet wieder – und niemand weiß anfangs, was mit ihm geschehen ist. So entwickelt diese Geschichte auch auf der Handlungsseite eine erstaunliche Sogkraft. Und Mora gelingt es mit „Auf dem Seil“, das Niveau der beiden Vorgängerbände zu halten. Wer weiß, vielleicht gibt es in ein paar Jahren wieder etwas Neues von Darius Kopp zu lesen. Richard Mayr und Siedlungen durch, brach in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte.“
Ruth, die Physikerin, sollte ein Füllmittel entwickeln, das der Stadt wieder zu Stabilität verhilft. Doch ihr Spezialgebiet ist die Zeit und sie nimmt wunderliche Dinge wahr. Schon auf der Fahrt nach Groß-Einland schien es ihr, als steige das Land unter ihr wie eine flüssige Masse auf. Raum und Zeit amalgamieren für sie, nichts ist mehr verlässlich, es vermengen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
In Groß-Einland sowieso. Die Stadt führt ihr Schicksal auf den Pergerhannes zurück, eine mythische Gestalt. Er verstand sich auf die Gerberei, las Bücher und drang auf der Suche nach Schätzen immer tiefer in den Berg unter der Stadt ein. Ein Menschenschinder sei er dabei Matthias Brandt: Blackbird Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 22 Euro gewesen. So wie die Hitler-Schergen, die 350 Jahre später hier ein unterirdisches Flugzeugwerk für die Rüstung einrichteten. 800 Zwangsarbeiter soll das Loch kurz vor ihrer Befreiung noch verschlungen haben. Ruth vergräbt sich ins Archiv, findet immer mehr Schauerliches heraus. Sie ahnt, dass in dem Loch, das sie unwiederbringlich verfüllen soll, noch viel mehr verschwunden ist und alle in Groß-Einland dabei beteiligt waren.
Raphaela Edelbauer schreibt ihren Roman so getrieben, wie Ruth nach Spuren sucht. Sie flicht Anekdoten ein, verwickelt Ruth in die Fänge der Gräfin, spinnt naturwissenschaftliche Theorien, raunt die alten Schauermärchen. Doch über alles gießt die Erzählerin in dieser Parabel auf das kollektive Verdrängen eine klebrige Schicht, als wäre alles nur ein fantastisches Hirngespinst. Ruth kann nichts beweisen. Nicht einmal, dass Groß-Einland überhaupt existiert. Alois Knoller Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land Klett-Cotta, 350 Seiten,
22 Euro