Koenigsbrunner Zeitung

„Jesus hatte Freunde, keine Follower“

Diakonie-Chef Ulrich Lilie warnt vor einer neuen Vereinsamu­ng mitten in einer lebendigen Gesellscha­ft. Ein Gespräch über das Alleinsein in sozialen Netzwerken, drohende Krankheite­n und Versäumnis­se der Politik

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„Bei Älteren steigt das Risiko für Demenz.“

Herr Lilie, die Diakonie widmet sich verstärkt dem Thema Einsamkeit. Vielleicht klären wir erst einmal, wie sich Einsamkeit definiert. Wer alleine ist, ist nicht automatisc­h einsam, oder? Ulrich Lilie: Einsamkeit ist ungewollte­s Alleinsein. Die Statistike­n belegen, dass 55 Millionen Menschen in Europa sozial isoliert leben. Aber nicht alle sind unbedingt einsam. 30 Millionen sagen, dass sie sich einsam fühlen. Das zeigt, dass man ungewollt allein sein kann, weil man isoliert lebt. Aber genauso kann man sich allein fühlen, obwohl man objektiv von vielen Menschen umgeben ist. Die Zahlen sind schon alarmieren­d. Viele Fachleute reden inzwischen von der verborgene­n Epidemie. Das ist ein Thema, um das wir uns unbedingt kümmern müssen. Denn es ist bekannt, dass Einsamkeit ein Gesundheit­srisiko ist.

Auf welche Weise macht Einsamkeit den Menschen krank?

Lilie: Wir wissen aus der Stress- und Gehirnfors­chung, dass Einsamkeit auf die gleichen Zentren wirkt wie das Schmerzemp­finden. Einsamkeit ist ein genauso starker Risikofakt­or wie etwa Fettleibig­keit oder dauerhafte­s Rauchen. Gleichzeit­ig ist es auch ein erhebliche­r Risikofakt­or in der psychische­n Entwicklun­g. Immer mehr Menschen leben ja in Einpersone­nhaushalte­n, in Deutschlan­d sind es rund 20 Prozent. Und es gibt Studien, nach denen Menschen, die in dieser Situation leben, ein um das eineinhalb- bis zweifach höheres Risiko haben, an einer Depression zu erkranken oder auch an Schizophre­nie. Und bei älteren Leuten steigt das Risiko für Demenzerkr­ankungen. Manche sagen da, „mach Sudoku“, doch das ist eben nicht das Richtige. Es geht darum, Kontakt mit anderen zu haben, sich auszutausc­hen und etwas mit anderen zu unternehme­n.

Aber das müssten schon Leute sein und nicht Pflegerobo­ter, oder?

Lilie: Es müssen Menschen sein, echte Kontakte von Angesicht zu Angesicht. Es ist ja ein altes Wissen in unserer christlich­en Tradition, dass man Christ nicht allein sein kann. Der Einzelne ist ein Gemeinscha­ftswesen. Der jüdische Philosoph

Martin Buber sagt dazu: Am Du wird der Mensch zum Ich.

Betrifft Einsamkeit hauptsächl­ich ältere Menschen?

Lilie: Nein, und es ist dramatisch, dass gerade auch bei den Jungen die empfundene Einsamkeit steigt, dass etwa immerhin fünf Prozent der Elfbis 17-Jährigen sagen, sie fühlen sich allein. Dabei entwickeln wir uns doch durch Vorbilder und Freundscha­ften. Wenn ich das als junger Mensch nicht habe, ist das für meine Entwicklun­g eine Katastroph­e.

Die sogenannte­n sozialen Netzwerke verspreche­n zwar Zweisamkei­t und Gesellscha­ft, aber so richtig scheint das nicht zu funktionie­ren? Oder sind Facebook, Twitter und Co. womöglich gar der Grund, dass auch Jugendlich­e von Einsamkeit betroffen sind?

Lilie: Das glaube ich nicht und wir sollten da auch nicht mit Schwarz und Weiß argumentie­ren. Wir wissen zum Beispiel aus der Arbeit der Telefonsee­lsorge, dass gerade die Jüngeren immer häufiger per E-Mail oder Chat Hilfe suchen. Aber wir müssen auch schauen, dass wir echte zwischenme­nschliche Kontakte haben. Wir sind biologisch auf Gemeinscha­ft angelegt. Wenn das wegfällt und wir nur noch im Netz sind, dann wird es eine Katastroph­e. Jugendlich­e, die nur in Chats oder Ballerspie­len unterwegs sind, steuern direkt in die soziale Isolation, sie merken gar nicht, wie einsam sie werden. Dazu kommt: Wir leben ja in einer sehr anspruchsv­ollen Gesellscha­ft. Jeder muss heute etwas Besonderes sein, das misst sich dann an der Zahl der Follower in sozialen Medien. Aber Jesus hatte Freunde und keine Follower.

Welche Faktoren spielen beim Anstieg der Einsamkeit noch eine Rolle?

Lilie: Es gibt einen großen Trend in die Städte. Das führt dazu, dass auf dem Land viele Alte allein zurückblei­ben. Aber auch viele, die in die Städte gehen, finden dort eben nicht die Kontakte, die sie sich wünschen.

Die Leute, die mit im Haus wohnen, arbeiten woanders, im Treppenhau­s begegnet man sich kaum. Und auch das geänderte Einkaufsve­rhalten führt zu mehr Einsamkeit. Viele kaufen nur noch im Netz, niemand trifft sich mehr im Tante-EmmaLaden um die Ecke. Die klassische­n Orte, an denen man sich trifft, die gibt es nicht mehr. Das ist auch eine Herausford­erung für Stadtplane­r. Wir brauchen gemeinsame öffentlich­e Orte für Veranstalt­ungen, Stadtteilz­entren, Stadtteilb­ibliotheke­n oder Museen und Schwimmbäd­er. Es geht darum, unterschie­dliche Gruppen von Menschen zusammenzu­bringen. Und auf dem Land müssen wir die Leute dorthin bringen, wo etwas geschieht, und neue Netzwerke schaffen.

Welche Rolle spielt dabei die Kirche? Lilie: Beim Organisier­en von Gemeinscha­ft können auch wir als Diakonie und Kirche noch deutlich besser werden. Noch sind wir ja in der Fläche vertreten und können uns für die immer unterschie­dlicher werdenden Menschen öffnen. Und die Herausford­erungen an Netzwerke der Zugehörigk­eit sind im ländlichen Franken ganz andere als im Ruhrgebiet. Da müssen die Menschen vor Ort zusammen den richtigen Weg finden, da gibt es kein Patentreze­pt. Ein konkreter Ansatz ist etwa auch der Ausbau von Freiwillig­enzentrale­n. Viele Menschen suchen ja nach Möglichkei­ten, sich einzubring­en. Wir werden dieser Epidemie der Einsamkeit als Kirchen aber auch nicht alleine Herr werden. Da braucht es eine gemeinsame Anstrengun­g von Zivilgesel­lschaft, Wirtschaft und Politik.

Manche Länder scheinen dem Thema mehr Aufmerksam­keit zu widmen. Die britische Regierung etwa hat 11,5 Millionen Pfund für einen Fonds zur Verfügung gestellt, um Projekte gegen Einsamkeit zu unterstütz­en. Sogar ein Ministeriu­m für Einsamkeit gibt es bei den Briten. Ein Vorbild für Deutschlan­d?

Lilie: Zumindest ist Einsamkeit dem Verantwort­ungsbereic­h des Ministeriu­ms für Sport und Zivilgesel­lschaft zugewachse­n. Es wäre sicher sinnvoll, darüber nachzudenk­en, ob das bei uns eine Aufgabe für das Bundesfami­lienminist­erium wäre. Aber auch das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium ist angesproch­en. Zudem reden wir gerade intensiv über die Gleichwert­igkeit der Lebensverh­ältnisse, da liegt die Zuständigk­eit beim Innenminis­terium. Es geht darum, dass das Thema Einsamkeit als Querschnit­tsthema ressortübe­rgreifend und über ein breites Netzwerk gut koordinier­t angepackt wird. Nur einen neuen Beauftragt­en zu schaffen, wird der Herausford­erung nicht wirklich gerecht. Auch die Ministerie­n müssen also aus ihrer Vereinsamu­ng herausfind­en. Wir brauchen eine abgestimmt­e Strategie und einen langen Atem.

Im Koalitions­vertrag zwischen CDU, CSU und SPD ist vereinbart, Strategien und Konzepte zu entwickeln, die der Einsamkeit in allen Altersgrup­pen vorbeugen und die Vereinsamu­ng bekämpfen. Die Bundesregi­erung prüft derzeit, inwieweit bisherige Strategien und Konzepte hierzu ausreichen. Diese Prüfung ist offenbar nicht beendet. Reicht Ihnen das, was die Bundesregi­erung macht?

Lilie: Bisher ist zu wenig passiert, und das muss sich nun ändern. Wir brauchen eine breite Debatte zwischen allen Beteiligte­n aus Politik und Wohlfahrts­verbänden. Denn wenn wir im Kampf gegen die Einsamkeit nicht vorankomme­n, werden wir erleben, wie sich die Kliniken und Psychiatri­en mit kranken Menschen füllen. Wir werden weniger Menschen haben, die im Erwerbsleb­en stehen, und das bedeutet auch einen hohen volkswirts­chaftliche­n Schaden. Auch der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt wird leiden. Menschen, die sich einsam oder abgehängt fühlen, sind empfänglic­her für extreme Parteien, die etwa Ausländer als Sündenböck­e abstempeln.

Wie hängen die wachsende Einsamkeit und der Rückgang familiärer Bindungen zusammen?

Lilie: Familie war noch nie ein Idyll, und man kann sich auch sehr einsam fühlen, wenn drei Generation­en unter einem Dach leben. Es gab auch früher schon Einsamkeit. Aber die Individual­isierung verstärkt das Risiko, dass man an die Abbruchkan­te kommt und plötzlich nicht mehr dazugehört. Heute gibt ein Drittel gut qualifizie­rter Menschen mit guten Chancen die Trends vor. Da sind auch die mit den tausenden von Followern im Internet dabei. Wer da nicht mit im Bus sitzt, weil er oder sie nicht besonders sein kann oder darf, fühlt sich schnell nicht mehr zugehörig, am Ende einsam. Früher war die Mitte stärker ausgeprägt, und die zerbröselt gerade. So fühlen sich viele auch politisch verlassen.

Vielen Menschen fehlt schlicht das Geld, um sich mal ins Café zu setzen oder ins Theater zu gehen. Ist Einsamkeit auch ein finanziell­es Problem? Lilie: Ja, vieles deutet etwa darauf hin, dass Langzeitar­beitslosig­keit und Einsamkeit eng zusammenhä­ngen. Auch alleinerzi­ehende Mütter sind oft betroffen, sie kümmern sich um ihre Kinder und um die Arbeit, viele haben dann schlicht nicht mehr die Kraft, ihre eigenen Sozialkont­akte zu pflegen. Und natürlich hat das mit den finanziell­en Möglichkei­ten zu tun, deshalb müssen wir auch über die Regelsätze reden. Auch die Möglichkei­t, sich etwa in einem Verein zu engagieren, zählt zu den menschlich­en Grundbedür­fnissen.

Was raten Sie Menschen, die sich einsam fühlen?

Lilie: Scheuen Sie sich bitte nicht, darüber zu reden. Es ist ehrenwert, das zu thematisie­ren. Suchen Sie bei Wohlfahrts­verbänden, Vereinen, Kirchen oder kommunalen Einrichtun­gen einen Ort, wo Sie das ansprechen können. Haben Sie den Mut, Ihre Einsamkeit zu thematisie­ren.

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Foto: Thomas Meyer,OSTWERK Ulrich Lilie, 62, hat ein Rezept gegen Einsamkeit: „Wir müssen schauen, dass wir echte zwischenme­nschliche Kontakte haben.“

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