Gustave Flaubert: Frau Bovary (34)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
U nd da glaube ich nicht an den sogenannten lieben Gott, der mit einem Spazierstöckchen in der Hand gemütlich durch seinen Erdengarten bummelt, seine Freunde in einem Walfischbauch einquartiert, jammernd am Kreuze stirbt und am dritten Tage wieder aufersteht von den Toten. Das ist schon an und für sich Blödsinn und obendrein wider alle Naturgesetze! Es beweist aber nebenbei, daß sich die Pfaffen in der schmachvollen Ignoranz, mit der sie die Menschheit verdummen möchten, mir Wollust selber herumsielen.“
Er schwieg und überschaute seine Zuhörerschaft. Er hatte sich ins Zeug gelegt, als spräche er vor versammeltem Gemeinderat. Die Wirtin war längst aus der Gaststube gelaufen. Sie lauschte draußen und vernahm ein fernes rollendes Geräusch. Bald hörte sie deutlich das Rasseln der Räder und das Klappern eines lockeren Eisens auf dem Pflaster. Endlich hielt die Postkutsche vor der Haustüre.
Es war ein gelblackierter Kasten auf zwei Riesenrädern, die bis an das Wagendeck hinaufreichten. Sie raubten dem Reisenden jegliche Aussicht und bespritzten ihn fortwährend. Die winzigen Scheiben in den Wagenfenstern klirrten in ihrem Rahmen. Wenn man sie heraufzog, sah man, daß sie vor Staub und Straßenschmutz starrten. Der stärkste Platzregen hätte sie nicht rein gewaschen. Das Fahrzeug war mit drei Pferden bespannt: zwei Stangen- und einem Vorderpferde.
Vor dem Gasthofe entstand ein kleiner Menschenauflauf. Alles redete durcheinander. Der eine fragte nach Neuigkeiten, ein andrer wollte irgendwelche Auskunft, ein dritter erwartete eine Postsendung. Hivert, der Postkutscher, wußte gar nicht, wem er zuerst Bescheid geben sollte. Er pflegte nämlich allerlei Aufträge für die Landleute in der Stadt zu übernehmen. Er machte Einkäufe, brachte dem Schuster Leder und dem Schmied altes Eisen mit; er besorgte der Posthalterin eine Tonne
Heringe, holte von der Modistin Hauben und vom Friseur Lockenwickel. Auf dem Rückwege verteilte er dann die Pakete längs seiner Fahrstraße. Wenn er am Gehöft eines Auftraggebers vorbeifuhr, schrie er aus voller Kehle und warf das Paket über den Zaun in das Grundstück, wobei er sich von seinem Kutscherbocke erhob und die Pferde eine Strecke ohne Zügel laufen ließ.
Heute kam er mit Verspätung. Unterwegs war Frau Bovarys Windspiel querfeldein weggelaufen. Eine Viertelstunde lang pfiff man nach ihm. Hivert lief sogar ein paar Kilometer zurück; aller Augenblicke glaubte er, den Hund von weitem zu sehen. Schließlich aber mußte weitergefahren werden.
Emma weinte und war ganz außer sich. Karl sei an diesem Unglück schuld. Herr Lheureux, der Modewarenhändler, der mit in der Post fuhr, versuchte sie zu trösten, indem er ein Schock Geschichten von Hunden erzählte, die entlaufen waren und sich nach langen Jahren bei ihren einstigen Herren wieder eingestellt hatten.
Unter anderem wußte er von einem Dackel zu berichten, der von Konstantinopel aus den Weg nach Paris zurückgefunden haben sollte. Ein andrer Hund war hinter einander dreißig Meilen gelaufen und hatte dabei vier Flüsse durchschwommen. Und sein eigner Vater hatte einen Pudel besessen; der war volle zwölf Jahre weg. Eines Abends, als der alte Lheureux durch die Stadt nach dem Gasthaus ging, sprang der Hund an ihm hoch.
Zweites Kapitel
Emma stieg zuerst aus, nach ihr Felicie, dann Herr Lheureux und eine Amme. Karl mußte man erst aufwecken. Er war in seiner Ecke beim Einbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen.
Homais stellte sich vor. Er erschöpfte sich der „gnädigen Frau“und dem „Herrn Doktor“gegenüber in Galanterien und Höflichkeiten. Er sei entzückt, sagte er, bereits Gelegenheit gehabt zu haben, ihnen gefällig sein zu dürfen. Und in herzlichem Tone fügte er hinzu, er lüde sich für heute bei ihnen zu Tisch ein. Er sei Strohwitwer.
Frau Bovary begab sich in die Küche und an den Herd. Mit den Fingerspitzen faßte sie ihr Kleid in der Kniegegend, zog es bis zu den Knöcheln herauf und wärmte ihre mit schwarzledernen Stiefeletten bekleideten Füße an der Glut, in der die Hammelkeule am Spieß gedreht wurde. Das Feuer beleuchtete ihre ganze Gestalt und warf grelle Lichter auf den Stoff ihres Kleides, auf ihre poröse weiße Haut und in die Wimpern ihrer Augen, die sich von Zeit zu Zeit schlössen. Der Luftzug strich durch die halboffene Tür und rötete die Flammen. Hochrote Reflexe umflossen die Frau am Herd. Am andern Ende desselben stand ein junger Mann mit blondem Haar, der sie stumm betrachtete.
Es war Leo Düpuis, der Adjunkt des Notars Guillaumin, einer der Stammgäste im Goldnen Löwen. Er langweilte sich gehörig in Yonville, und deshalb kam er zu Tisch öfters absichtlich zu spät, in der Hoffnung, mit irgendeinem Reisenden den Abend im Wirtshause verplaudern zu können. Wenn er aber in der Kanzlei gerade gar nichts zu tun hatte, mußte er aus Langeweile wohl oder übel pünktlich erscheinen und von der Suppe bis zum Käse Binets Gesellschaft erdulden. Frau Franz hatte ihm den Vorschlag gemacht, heute mit den neuen Gästen zusammen zu essen; er war mit Vergnügen darauf eingegangen. Zur Feier des Tages war im Saal für vier Personen gedeckt worden.
Man versammelte sich daselbst. Homais bat um Erlaubnis, sein Käppchen aufbehalten zu dürfen. Er erkälte sich leicht. Frau Bovary saß ihm beim Essen zur Rechten.
„Gnädige Frau sind zweifellos ein wenig müde?“begann er.
„In unsrer alten Postkutsche wird man schauderhaft durchgerüttelt.“„Freilich!“gab Emma zur Antwort. „Aber dieses Drüber und Drunter macht mir gerade Spaß. Ich liebe die Abwechselung.“
„Ach ja, immer auf demselben Platze hocken ist gräßlich!“seufzte der Adjunkt.
„Wenn Sie wie ich den ganzen Tag auf dem Gaule sitzen müßten …“, warf Karl ein.
Leo wandte sich an Emma: „Grade das denke ich mir köstlich. Natürlich muß man ein guter Reiter sein.“
„Ein praktizierender Arzt hats übrigens in hiesiger Gegend ziemlich bequem“, meinte der Apotheker.
„Die Wege sind nämlich soweit imstand, daß man ein Kabriolett verwenden kann. Im allgemeinen lohnt sich die Praxis auch. Die Bauern sind wohlhabend. Nach den statistischen Feststellungen haben wir, abgesehen von den gewöhnlichen Diarrhöen, Rachenkatarrhen und Magenbeschwerden, hin und wieder während der Erntezeit wohl Fälle von Wechselfieber, aber im großen und ganzen selten schwere Krankheiten. Besonders zu erwähnen sind die zahlreichen skrofulösen Leiden, die zweifellos von den kläglichen hygienischen Verhältnissen in den Bauernhäusern herrühren.
»35. Fortsetzung folgt