Amok im Auge
Lange galt das Glaukom als Folge eines erhöhten Augeninnendrucks. Jetzt deutet sich an: Es ist womöglich eine Autoimmunkrankheit. Was dafür sprechen könnte
„Wenn die Pupille wie die Farbe des Meeres wird“, fiel schon vor fast 2400 Jahren dem griechischen Arzt Hippokrates auf, „ist das Augenlicht zerstört.“Glaukom, Eulenauge, nannte der berühmteste Heilkundler seiner Zeit die Krankheit, gegen die weder Aderlass, Kräuterkissen noch ein anderes Mittel helfen wollte. Ein Rätsel blieben ihm auch die Ursachen des Leidens. Erst im 19. Jahrhundert reimte sich der deutsche Ophthalmologe Albrecht von Graefe zusammen, dass der hart gespannte Augapfel der Patienten und die Erblindung irgendwie zusammenhängen könnten. Der Sehnerv, vermutete er, werde beim grünen Star durch einen erhöhten Druck im Auge abgeklemmt. Dadurch gehen die Ganglienzellen zugrunde, die als eine Art Relaisstationen die Sinneszellen in der Netzhaut mit dem Hirn verbinden.
Für die meisten Ophthalmologen stand seitdem fest: Ohne erhöhten Augeninnendruck kein Glaukom – dementsprechend eindringlich wurden die Patienten zur regelmäßigen Messung des Wertes aufgerufen. Nur auf diese Weise, hieß es, ließe sich die Krankheit frühzeitig erkennen und das Sterben der Nervenzellen aufhalten.
Was allerdings noch nie ins Bild passen wollte: Immer wieder tauchten Patienten auf, die trotz ganz normalem Druck die gleichen Zerstörungen zeigten. Gleichzeitig gebe es auf der anderen Seite viele Menschen, die selbst höchste Drücke ohne Schaden überstehen, berichtet Norbert Pfeiffer, der Direktor der Augenheilkunde der Uniklinik Mainz. Und es scheint auch nicht jedem Betroffenen zu helfen, wenn der Arzt für Entspannung im Augapfel sorgt. „All das spricht dafür: Der Druck allein kann es nicht immer sein, der zur Erblindung führt. Die Ursachen müssen komplexer sein“, so der Experte.
In der Fachzeitung Nature Communications behaupteten amerikanische Wissenschaftler, sie hätten eine Erklärung für diese Widersprüche gefunden. Ihrer Meinung nach ist der grüne Star weniger ein mechanisches Problem, sondern eine Autoimmunkrankheit. Sollten sie recht behalten, wäre das sowohl für Früherkennung wie Therapie eine Revolution.
Huihui Chen von der Harvard Medical School hat beobachtet, dass bei ansteigendem Augeninnendruck plötzlich Abwehrzellen in der Netzhaut auftauchen. Jedenfalls gilt das für Mäuse. Womöglich, so seine Schlussfolgerung, löst der Druck eine autoaggressive Immunantwort aus. Durch die Verletzungen, die er dem Auge zufügt, wird das Immunsystem mit ungewohnten Körperstrukturen konfrontiert. Diese werden irrtümlicherweise als fremd eingeordnet und attackiert.
Was diese Theorie unterstützt: Nager, denen T-Lymphozyten fehlen, blieben in Chens Experimenten gesund. Ähnliche autoaggressive seien auch bei Normaldruck-Glaukomen am Werk, glaubt er.
Dafür spricht auch die Forschung von Norbert Pfeiffer und seinem Kollegen Franz Grus. Die beiden Mainzer haben selbst bei gesunden Menschen Auto-Antikörper gefunden, die sich gegen Netzhaut und Sehnerv richten. Nur bei ihnen wird diese Immun-Munition wiederum durch andere Antikörper neutralisiert. „Bei Glaukompatienten scheint die Mischung dieser Eiweiße nicht mehr zu stimmen“, so der Augenarzt. Inzwischen kann er aus dem Antikörpermuster in der Tränenflüssigkeit ablesen, ob ein grüner Star vorhanden ist – schon bevor andere Tests dies bemerken. Und sogar ob ein erhöhter Augeninnendruck dahintersteckt.
Stephanie Joachim, die die experimentelle Augenforschung der
Universität Bochum leitet, hat wiederum bislang friedliche Abwehrzellen zu Netzhautzerstörungen angestiftet. Indem sie Ratten genau die Proteine spritzte, gegen die sich die Autoantikörper richten. Bei toten Glaukompatienten, berichtet sie, fände man in der Netzhaut die Spuren der gleichen Immunreaktionen. Hinzu kommt: Eine Autoimmunkrankheit geht häufig mit einer anderen einher – und ebenfalls mit einem grünen Star.
Nicht alle kann das überzeugen: „Meiner Meinung nach sind die Autoimmun-Reaktionen beim Glaukom in der Regel nicht die Ursache der Problems, sondern nur eine Begleiterscheinung“, sagt Josef Flammer. Abwehrzellen und Antikörper fänden sich auch bei anderen zerstörerischen Nervensystem-Erkrankungen wie dem Morbus Alzheimer, so das Argument des ehemaliAbwehrzellen gen Chefs der Augenklinik am Universitätsspital Basel.
Und auch in diesen Fällen sei noch nicht geklärt, ob das Immunsystem nicht einfach nur auf den Zelluntergang reagiert. Flammer geht stattdessen davon aus, dass das Problem von Menschen mit einem Normaldruck-Glaukom in einer Fehlregulation der Augenarterien liegt. Weil deshalb die Netzhaut nicht immer ausreichend mit Blut versorgt wird, ersticken die Ganglienzellen gewissermaßen in ihren Abfallprodukten.
Vielleicht müssen sich beide Theorien aber auch nicht widersprechen, weil das Glaukom eine Krankheit ist, in die die verschiedensten Wege münden. Wie unter anderem Norbert Pfeiffer glaubt. Bei den einen spielen die Gefäße verrückt, bei den anderen steckt eine Autoimmun-Attacke dahinter, bei den meisten jedoch, sagt er, steht der Überdruck im Auge zumindest am Anfang des Problems. Das gilt laut Studien vor allem für diejenigen, deren Auge ihm durch eine dünnwandigere Bauweise oder aufgrund des Alters schlechter widerstehen. Bislang gibt es für alle aber nur eine einzige Behandlungsalternative: die Senkung des Innendrucks per Operation oder Medikamente.
„Nur, bei jedem dritten Betroffenen kann man den Druck kaum noch tiefer senken“, sagt Norbert Pfeiffer, „der ist schon sehr tief.“Dass die Krankheit bei ihnen trotzdem weiter voranschreitet, würde durch eine Autoimmunreaktion sehr gut erklärt. Womöglich, so seine Vision, ließe sich ihnen helfen, wenn man per Impfung oder Medikament in ihr gestörtes Antikörper-Gleichgewicht eingreift.
Seine Visionen reichen noch weiter: Das Glaukom ist eine schleichende Krankheit. Weil das Gehirn die ersten Ausfälle überspielt, fällt bei jedem zweiten Betroffenen die Blindheit erst im fortgeschrittenen Stadium auf. Mit Pfeiffers Autoantikörper-Profil wäre womöglich eine frühere Diagnose möglich – ganz unabhängig davon, welche Ursache dahintersteckt.